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Der Köder

Der Köder

Titel: Der Köder
Autoren: P.J. Tracy
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einen ganz
    anderen Eindruck. Der Kummer lastete schwer auf ihm, seine Augen
    waren gerötet und angeschwollen, seine Lippen zitterten.
    Magozzi fand es interessant, dass Marty die Hand ausstreckte, als wolle er den Arm der alten Frau berühren, aber im letzten Moment
    noch innehielt. Offenbar nicht das Verhältnis, bei dem man Gefühle durch Berührungen ausdrückte. «Detectives Magozzi und Rolseth,
    darf ich vorstellen, meine Schwiegermutter Lily Gilbert, und das hier ist Sol Biederman.»
    Lily Gilbert trat an den Tisch und legte eine Hand auf die Brust
    ihres toten Mannes. «Und das ist Morey», sagte sie mit einem
    missbilligenden Blick auf Marty, als sei es unhöflich von ihm
    gewesen, seinen Schwiegervater nicht vorzustellen, bloß weil er tot war.
    «Wie wir von Marty hören, war Ihr Gatte ein wundervoller
    Mensch, Mrs. Gilbert», sagte Magozzi. «Ich kann mir vorstellen, was für ein schrecklicher Verlust es für Ihre Familie sein muss. Und für Sie ebenfalls, Mr. Biederman», fügte er hinzu, denn inzwischen ließ der alte Mann seinen Tränen freien Lauf.
    Lily sah Magozzi prüfend an. «Ich kenne Sie. Letzten Herbst
    waren Sie doch wegen dieser Monkeewrench-Sache ständig in den
    Nachrichten. Ich habe Sie öfter gesehen als meine eigene Familie.»
    Ihren tadelnd herausfordernden Blick übersah Marty geflissentlich.
    «Sie haben Fragen, wenn ich mich nicht irre?»
    «Wenn Sie meinen, dem gewachsen zu sein, dann ja.»
    Anscheinend war sie dem nicht nur gewachsen, sondern sie
    entschied sich, auf die Fragen zu verzichten und gleich zu den
    Antworten zu kommen. «Also gut. Folgendes ist geschehen: Ich bin
    wie immer um halb sieben aufgestanden, habe Kaffee gemacht und
    bin dann hinaus zum Gewächshaus gegangen. Dort lag Morey im
    Regen. Marty findet, ich hätte seinen Schwiegervater draußen liegen lassen sollen, während ihm der Regen in die Augen fiel. Ich hätte ihn liegen lassen sollen, damit Fremde Zeugen würden, wie sich sein
    Mund mit Wasser füllte…»
    «Mein Gott, Lily…»
    «Aber so geht man nicht mit seinen Nächsten um. Also habe ich
    ihn nach drinnen gebracht, habe ihn hergerichtet und dann Sol
    angerufen. Danach habe ich Marty angerufen, der seit sechs Monaten nicht mehr ans Telefon gegangen ist.»
    «Lily, es handelte sich um einen Tatort», sagte Marty müde.
    «Und das hätte ich wissen sollen? Bin ich Polizist? Ich habe
    einen Polizisten angerufen, aber der ist nicht ans Telefon gegangen.»
    Marty schloss die Augen, und Magozzi hatte das Gefühl, dass er
    die Augen gegenüber dieser Frau schon seit langem verschlossen
    hielt. «Ich bin kein Polizist mehr, Lily.»
    Magozzi musste blitzartig an eine Situation vor fast einem Jahr
    zurückdenken. Damals war er Detective Marty Pullman vor der City
    Hall begegnet, als dieser zum Vordereingang herauskam, mit seiner Karriere in einem Pappkarton unter dem Arm und einer Miene, als
    sei er von einem Lastwagen überfahren worden. «Sie werden
    wiederkommen, Detective», hatte Magozzi gesagt, weil er nicht
    wusste, was er sonst zu einem Mann hätte sagen sollen, der so viel verloren hatte. Schlimmer war jedoch noch, dass er nicht verstand, wie ein Mann so leicht einen Job hinwerfen konnte, den er liebte.
    Marty hatte gelächelt, wenn auch nur verhalten. «Ich bin kein
    Detective mehr, Magozzi.»
    Magozzi versetzte sich wieder in die Gegenwart zurück und hörte
    Gino die gewohnte Litanei abspulen: Wurde etwas vermisst?
    Etwaige Anzeichen eines Einbruchs? Hatte Gilbert vielleicht Feinde gehabt? Irgendwelche ungewöhnlichen Geschäfte?…
    «‹Ungewöhnliche Geschäfte›?», fauchte Lily. «Was soll denn das
    heißen? Meinen Sie etwa, wir bauen in dem hinteren Gewächshaus
    Marihuana an? Oder haben einen Mädchenhändlerring aufgezogen?
    Na, was?»
    Auf Sarkasmus hatte Gino noch nie so recht reagieren können,
    und ihm stieg die Röte ins Gesicht. Sie hatten im Laufe der Jahre mit trauernden Hinterbliebenen mancher Art zu tun gehabt, und Gino
    kam am besten mit denen zurecht, die vor Kummer
    zusammenbrachen. Das zerriss ihm zwar das Herz, und er litt noch
    lange darunter, aber wenigstens wusste er, wie er auf sie eingehen musste. Es wurde von den Hinterbliebenen eben erwartet, dass sie
    zusammenbrachen. Das passte in Ginos Bild von Leben und Tod,
    von Liebe und Familie, und machte es ihm leicht, rücksichtsvoll zu sein und so viel Trost zu spenden, wie ein Cop es in dieser Situation vermochte. Aber die Wütenden, die um sich schlugen, ebenso wie
    die
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