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Der Kleine Mann und die Kleine Miss

Der Kleine Mann und die Kleine Miss

Titel: Der Kleine Mann und die Kleine Miss
Autoren: Erich Kästner
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mit
fünftausend Rehen und Hirschen und mit Eichen, die sechshundert Jahre alt sind.
Eine soll sogar achthundert Jahre alt sein. Und Hünengräber aus der
Wikingerzeit liegen nur so herum. Und Pferdedroschken für Spazierfahrten kann
man mieten, als wären’s Taxis. Und die Rehe haben überhaupt keine Angst,
sondern wedeln höchstens mit den Ohren, wenn man vorbeifährt. Aber Direktor
Brausewetter kann das Engagement nicht verlängern, weil sie im nächsten Monat
in Oslo auftreten müssen. Na, Oslo ist sicher auch sehr schön.«
    »Vermutlich«,
sagte ich. »Und wo liegt inzwischen Mama Marzipan mit dem namenlosen Baby?«
    »Mama
Marzipan und das Baby sind doch auch in Kopenhagen! Vielleicht bleiben sie
vierzehn Tage länger und fliegen erst dann nach Oslo. Vorsichtshalber und nur
so. Denn es fehlt ihnen wirklich rein gar nichts. Bis…« Er biss sich auf die
Unterlippe.
    »Bis
auf den Vornamen.«
     
    Er
stand schon halb auf der Treppe, als ihm noch etwas einfiel.
    »Was
ist denn nun mit den Kindern, die den ersten Band vom kleinen Mann nicht
gelesen haben?«, fragte er. »Ich meine die Kinder, die zuerst den zweiten Band
geschenkt kriegen! Das ist doch glatt möglich, oder?«
    »Jawohl.
Damit muss man rechnen.«
    »Na
und?« Jakob wurde eifrig. »Wenn die lieben Kleinen das erste Kapitel vom
zweiten Band lesen, das Sie mir vorhin gegeben haben, und wenn sie den ersten
Band noch nicht kennen, dann verstehen sie ja überhaupt nicht, was eigentlich
los ist! Sie wissen nicht, dass Mäxchen gekidnappt und befreit wurde und wie
aufgeregt die ganze Stadt war. Und von Bernhard und dem Kahlen Otto und dem
Señor Lopez haben die armen Würmer keine blasse Ahnung. Womöglich wissen sie
nicht einmal, dass Mäxchen nur fünf Zentimeter groß ist und…«
    »Hör
auf!«, bat ich. Mir war der Schreck so in die Glieder gefahren, dass ich mich
an der offenen Wohnungstür festhalten musste.
    Aber
er hörte nicht auf. »Na ja, vielleicht verkaufen die Buchhändler den zweiten
Band nur für Kinder, die den ersten Band schon gelesen haben.«
    »Dummes
Zeug«, knurrte ich. »Woher sollen das denn die Buchhändler wissen? Und wer soll
es ihnen denn erzählen? Tante Frieda, die nur alle Jubeljahre einen Buchladen
betritt? Oder Onkel Theodor, der ein Buch bloß kauft, weil es billiger ist als
eine Dampfmaschine?«
    »Das
sieht ja düster aus«, meinte Jakob und setzte sich auf die Treppe. Ich setzte
mich neben ihn und murmelte: »Sehr düster, junger Freund.«
    Nach
einer Weile sagte er: »Ich weiß was! Sie müssen den zweiten Band damit
beginnen, dass Sie zunächst den Inhalt des ersten Bandes erzählen. Ist das eine
gute Idee?« Er strahlte, als habe er soeben Amerika entdeckt.
    Ich
winkte betrübt ab. »Dafür brauche ich mindestens dreißig, vielleicht sogar
vierzig Buchseiten! Und was, glaubst du wohl, würden dann die anderen Kinder
sagen, die den ersten Band schon kennen?«
    »Sie
würden fluchen.«
    »Ganz
richtig.«
    »Sie
würden ganz richtig fluchen. ›Diesen Herrn Kästner sollte dreimal die Erde
verschlingen!‹ könnten sie beispielsweise fluchen, oder ›Man müsste ihm mit dem
Tomahawk den Scheitel nachziehen!‹ oder ›Auf, Kameraden, wir wollen ihm
Reißzwecken ins Bier träufeln!‹ oder ›Cassius Clay möge ihn aufdünsten!‹
    oder…«
    »Sei
nicht so blutrünstig, Jakob! Hilf mir lieber aus der Patsche!« Aber ihm fiel
nichts Gescheites ein. Mir fiel nichts Gescheites ein. Und so säßen wir
womöglich noch heute auf der Treppe, wenn nicht plötzlich ein Windstoß durchs
Haus gefegt wäre und mit lautem Knall die Wohnungstür zugeschlagen hätte.
    Und
mein Schlüsselbund lag drin auf dem Schreibtisch!
    »Künstlerpech«,
meinte Jakob. »Dichterfürst hat Künstlerpech.
    Wo
wohnt der nächste Schlosser?« Ein Glück, dass ich’s wusste.
    Der
Junge versprach mir, auf dem Nachhauseweg dem Handwerker Bescheid zu sagen,
verabschiedete sich und sauste wie ein geölter Blitz davon.
    Der
Schlosser war weniger gut geölt, und ein Blitz war er auch nicht gerade. Er
kam, als es im Treppenhaus längst dämmerte.
    Und
vielleicht lag es an der Dämmerung, dass mir, während ich auf den Stufen
hockte, der rettende Einfall durch den Kopf schoss. (Wenn das stimmen sollte,
werde ich mich künftig ziemlich oft bei Dämmerung ohne Schlüssel auf die Treppe
setzen.)

     
    Jedenfalls,
als der Schlosser die Tür aufgesperrt hatte, gab ich ihm vor Freude zwei Mark zu
viel, bedankte mich, weil er so spät gekommen war, und schrieb
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