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Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Titel: Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
Autoren: Kester Schlenz , Joja Wendt
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Schergen ständig in ihre Welt bringen. Instrumente, die in der Lage waren, mit dem Geschriebenen eine Symbiose einzugehen; Ton und Note mussten sich in perfekter Harmonie vereinigen. Das Geschriebene nahm durch sie Gestalt an.

    Ja, das Geschriebene. Ihr Ein und Alles. In Zeichen gegossene Musikgeschichte. Nur das, was an Klängen und Melodien durch Notenaufzeichnung fixiert war, konnte vor ihr bestehen. Nur das Geschriebene, Kanonisierte galt.
    Sie hasste das Spielerische, die flüchtige Vergänglichkeit improvisierter Musik, die nicht dauerhaft im Gedächtnis bleiben konnte, weil sie nicht festgehalten wurde. Schon der Gedanke daran machte sie wütend.
    Theodora hob den Taktstock und machte das Zeichen für eine Pause, und sofort verstummten die Instrumente.
    «Zeit, unserem Neuankömmling das Gesetz zu lehren, meine Freunde», zischte sie in die Halle. «Auf mein Zeichen! Lasst mich das Gesetz hören!»
    Sie bewegte ihren Taktstock, und sämtliche Instrumente deklamierten wie hypnotisiert im Chor die folgenden Sätze:
    «Das, was früher war, gilt es zu pflegen und jede Veränderung zu vermeiden.
    Gemeinschaftsdisziplin geht vor individuelle Interessen.
    Jeder unerlaubte musikalische Alleingang wird strengstens unter Strafe gestellt.
    Improvisiere nie !»

    Dann verstummten die Instrumente und blickten hoch zu ihrer Herrscherin. Die lachte zufrieden, senkte ihre äußeren Pfeifen hinab, schloss ihr Auge und begann zu ruhen, wie sie es in regelmäßigen Abständen tun musste. Absolute Kontrolle auszuüben kostete nun mal Kraft, daran konnte auch die nie versiegende geheime Quelle ihrer Macht nichts ändern. Grollend schob sich die bewegliche Decke wieder aus den Öffnungen und schloss sich mit einem dumpfen Geräusch.
    Die Instrumente und der Flügel waren wieder unter sich in der großen Halle.
    Erst sprach niemand, aber dann hörte der Flügel, wie sich ein Instrument auf der oberen Ebene über seitliche Treppen auf den Weg hinab in die Halle machte. Und jetzt entspannten sich auch die anderen Instrumente und begannen, leise miteinander zu tuscheln.

[zur Inhaltsübersicht]
    Freund und Feind
    D er Flügel hörte einfach nur zu und wartete. Die Flut der Eindrücke lähmte ihn geradezu. «Oh, war das wieder anstrengend», brummte eine Bratsche. «Hoffentlich schläft sie lange», murmelte ein Cello. «Schaut, der Neue ist ganz geschockt. Na, kein Wunder», säuselte eine Geige.
    Die freundliche Tuba war nun aus der mittleren Ebene hinabgestiegen und näherte sich dem Flügel. Sie bewegte sich mit Hilfe ihres dreibeinigen Ständers fort und blieb schließlich dick, rund und golden glänzend vor ihm stehen.
    «Hallo», sagte sie mit voller, tiefer Stimme. «Wie du siehst, bin ich eine Tuba. Eine Bass-Tuba, um genauer zu sein. Ich bin sozusagen für die tieferen Dinge zuständig, wenn mir dieser kleine Scherz erlaubt ist. Mich haben sie einem Musiker eines weltweit bekannten Sinfonieorchesters abgekauft. Der hatte Spielschulden. So kam ich her. Mein Spieler war ein guter, aber schwacher Mensch. Er spielte etwa so gut Poker wie ein Schimpanse. Alles hat er verloren, am Ende auch mich. Bitter ist das. Es stand eine Tournee durch China an, und jetzt bin ich hier und spiele, um zu überleben.»
    «Ich …», begann der Flügel stockend. «Ich spielte mit einem ganz besonderen Mann, bis etwas Trauriges geschah …»
    Die anderen Instrumente kamen langsam näher, umringten ihn und hörten zu. Sie kannten das. Jeder, der in Theodoras Reich kam, hatte eine Geschichte zu erzählen. Und das tat nun auch der Flügel. Schweigend lauschten die anderen, und als er geendet hatte, nickten die Instrumente: «So ähnlich war’s auch bei mir. Das passiert einem, wenn man etwas Besonderes ist.»
    Tatsächlich hatten sie alle genau das gemeinsam. Sie alle waren besondere Instrumente, die besten ihrer Art. Selten, hochwertig, alt, teuer, mit Hingabe gepflegt und mit der Gabe gesegnet, Musik in Vollkommenheit zu spielen.
    «Aber», fragte der Flügel, «ist es nicht trotzdem ein Segen, dass wir hier ohne Menschen selbst spielen können? Aus eigener Kraft? Als ich draußen ein Stück von Chopin gespielt habe, war ich ganz kurz sehr glücklich.»
    Die anderen schwiegen. «Du sagst es ja selbst, Flügel», brummte schließlich die Tuba. «Ganz kurz warst du glücklich. Bis es dir verboten wurde, einfach so zu spielen. Könnten wir hier spielen, wie wir wollten, wäre es das Paradies. Aber wir müssen tun, was sie will. Doch man gewöhnt
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