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Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Titel: Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
Autoren: Kester Schlenz , Joja Wendt
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vorn.
    Er konnte es nicht fassen! Hatte er sich gerade wirklich selbständig bewegt?
    «Okay», dachte er. «Ich habe drei Beine mit Rollen unten dran. Ich tu jetzt mal so, als könnte ich die selbst bewegen.»
    Und dann begann er zu rollen. Einfach so. Er war fassungslos! In dieser Welt konnte er sich offenbar mühelos fortbewegen. Und nicht nur das. Kaum hatte er an seinen großen Vorderdeckel gedacht, da merkte er, dass er ihn von selbst öffnen und schließen konnte. Hieß das etwa auch …? Er mochte es kaum glauben, doch als er ganz vorsichtig versuchte, seine Tasten zu bewegen, erklangen auch schon die ersten Töne. Er konnte spielen! Von selbst spielen!
    Spontan ließ er das Regentropfen-Prélude von Frédéric Chopin ertönen, das Bernhard Ogermann und er so gern gespielt hatten. Es klang wunderschön, doch weit kam er nicht, denn der große Mann schrie wie von Sinnen: «Bist du verrückt? Sei sofort still!» Und er schlug mit einem Knall die Vorderklappe des Flügels zu.
    Der Flügel verstummte. Seine Freude über die neuen, unbegreiflichen Fähigkeiten wich wieder nackter Angst.
    Die rothaarige Frau beugte sich zu ihm hinab und zischte: «Niemand spielt hier, ohne dass ihn die Erhabene auffordert. Merk dir das. Und jetzt los mit dir. Rein in den Turm.»

    Und schon öffneten sich die großen, schweren hölzernen Türen des Gebäudes knarrend wie von Geisterhand. Der Grobian gab dem Flügel noch einen Schubs, der fügte sich und rollte langsam auf das gigantische Gebäude zu, dicht gefolgt von der rothaarigen Frau und dem großen Mann.
    Als die drei näher kamen, huschte etwas vor ihnen davon und versteckte sich hinter Felsen. Der Flügel erkannte nicht, was es war. Tiere? Nein, dafür wirkten die flüchtenden Dinger zu eckig. Schließlich erkannte er, dass es kleine Instrumente waren. Mundharmonikas, winzige Flöten, Maultrommeln und Ähnliches. Verstaubte, verschüchterte Wesen, die sich ängstlich versteckten.
    Weiter und weiter rollte der Flügel auf den dunklen Turm zu. Und jetzt hörte er auch wieder das leise Sirren, diesen bösen Ton, den er schon im Auktionshaus von Lützenried registriert hatte. Er schien direkt aus dem Fundament des Turms zu kommen und erinnerte ihn an die Worte der rothaarigen Frau: «Der Turm. Er ruft nach dir.»
    Jetzt konnte er bereits hinter dem geöffneten Tor einen gigantischen Saal sehen, in dem reges Treiben herrschte – doch etwas anderes rechts neben dem Turm, in etwas weiterer Entfernung, lenkte ihn ab. Dort, mitten in der Ebene, war etwas. Es wirkte wie eine Art Lager; man sah Zelte, und zwischen ihnen bewegten sich Gestalten. Ab und zu trug der Wind Töne herüber, die der Flügel nicht richtig einordnen konnte. Ohne zu wissen, warum, drängte es ihn hin zu diesem sonderbaren Platz, aber kaum war er auch nur einen Zentimeter vom Kurs in Richtung Turm abgewichen, drosch der Grobian auf seinen Deckel ein und schrie: «Untersteh dich. Dort entlang. Geradewegs hinein in den Turm. Ich warne dich. Gehorche, oder ich zerschlage dich gleich hier in diesem Niemandsland.»
    «Ja», sagte der Flügel leise und registrierte trotz seiner Angst mit einigem Erstaunen, dass er nun also auch sprechen konnte. Seine Stimme klang schön. Ein bisschen wie die von Bernhard Ogermann. Ach, wenn er doch nur dort bei seinem geliebten Spieler bis ans Ende seiner Tage hätte bleiben können.
    Doch das Schicksal hatte etwas anderes für ihn vorgesehen.
    Der kleine Flügel sollte ein großes Abenteuer erleben – ein Abenteuer, das ihm alles abverlangen und Kräfte in ihm wecken würde, von denen er zu diesem Zeitpunkt noch nicht das Geringste ahnte.
    Also gehorchte der Flügel und rollte langsam weiter. Mitten hinein in das Innere des dunklen Turms.

[zur Inhaltsübersicht]
    Theodora, die Erhabene
    D er Flügel rollte durch das mächtige, aus grobem Eichenholz gefertigte Tor hinein in eine große, majestätische Halle. Anfangs konnte er kaum etwas erkennen, weil ihn das Licht Tausender Kerzen blendete, deren Flackern die Halle fast lebendig erscheinen ließ.
    Dann hörte er Stimmen. Viele Stimmen. «Das ist der Neue.» «Schaut, ein Flügel.» «Ob er wohl gut genug ist?» «Der Arme. Er sieht so ängstlich aus.»
    Und schließlich erkannte er, wer da sprach. Es waren Instrumente unterschiedlichster Art.
    Sie starrten ihn an und redeten leise miteinander, als hätten sie Angst, jemanden aufzuwecken. Aber die Summe der Unterhaltungen sorgte für ein allumfassendes Zischeln, das den ganzen
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