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Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Titel: Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
Autoren: Kester Schlenz , Joja Wendt
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rothaarige Frau blieb sitzen, wühlte aber in ihrer Handtasche. Der Auktionator ging zu ihr und blieb abwartend neben ihr stehen. Sie blickte kurz hoch, mit kalten, bösen Augen, und wühlte weiter in ihrer Tasche. Schließlich gab sie dem Auktionator ein dickes Bündel Geldscheine. Der steckte es schnell in die Tasche seines Sakkos, grinste und murmelte: «War mir wie immer ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen.» Dann verließ er den Raum eilig durch eine Seitentür.
    Der Gigant und die Frau setzten sich wieder hin und warteten. Der Flügel wusste nicht, auf was, doch ihre Blicke nach draußen ließen ihn schließlich erkennen: Sie warteten auf die Dunkelheit. Das, was sie mit ihm vorhatten, sollte heimlich passieren. Ohne Zeugen.
    Und dann, etwa eine Stunde später, war die Sonne untergegangen, und der Lützenrieder Bahnhof schimmerte matt im fahlen Licht des Mondes. Ein letztes Auto verließ den Parkplatz.
    Dann war Stille.
    Schließlich erhoben sich die Frau und der Mann und gingen mit langsamen Schritten auf den Flügel zu. Die Frau blieb dicht neben ihm stehen und legte ihre eiskalte Hand auf seine Tastatur. «Kleiner, ahnungsloser Flügel», sagte sie und lachte tonlos. «Weißt gar nicht, dass du etwas Besonderes bist. Du hast es. Du hast die Gabe. Und deshalb brauchen wir dich.»
    Dann drehte sie sich zu ihrem Begleiter um und zischte: «Los, lass uns beginnen. Die Erhabene wird schon ungeduldig warten. Dieser Flügel hier könnte die letzte Phase einleiten.»
    Der Riese näherte sich, und beinahe mühelos schob er den schweren Flügel in die Mitte des Raumes.
    Der war starr vor Angst. Was geschah nur mit ihm? Wohin wollten ihn diese düsteren Gestalten bringen? Als ob die Rothaarige seine Gedanken gelesen hätte, zischte sie: «In die Ebene bringen wir dich. Und dort steht er: der Turm. Dort wirst du deine Bestimmung finden. Wie die anderen. Genau wie die anderen.»
    Dann lachte sie mit ihrer kehligen, blechernen Stimme, und die schrillen Töne hallten unheimlich durch den dunklen Auktionssaal.
    Schließlich schwieg die Frau und zog vorsichtig eine hölzerne Schachtel aus einer ihrer Taschen. Sie war kunstvoll mit Schnitzereien verziert, die Instrumente darstellten. Und diese Instrumente hatten Gesichter. Gesichter, die vor Gram verzerrt waren.
    Vorsichtig stellte die Rothaarige die Schachtel auf den Flügel und öffnete den Deckel nur einen winzigen Spalt. Sofort strömte ein helles, unwirkliches Licht in den Raum. Die Frau und der Riese wichen zurück, näherten sich aber wieder und öffneten die Schachtel schließlich ganz. Immer heller wurde das Licht. Es quoll wie Dampf aus der Schachtel und schwebte in kleinen Wolken durch den ganzen Raum.
    Jetzt trat der Riese vor, zog sich einen dick gepolsterten Handschuh an und griff mit zusammengekniffenen Augen in die Schachtel.
    Es zischte, und schließlich zog er etwas Langes, hell Glänzendes heraus. Es war die Saite eines Instrumentes – aber ganz offensichtlich keine normale Saite, wie der Flügel sie von Geigen oder Kontrabässen kannte. Diese Saite wand sich in den behandschuhten Fingern des großen Mannes wie eine Schlange. Und sie schien zu leuchten, als ob ihr eine geheimnisvolle Kraft innewohnte, die nur mit Mühe zu bändigen war.
    Es war eine unwirkliche Szene: der Flügel in der Mitte des dunklen Raumes, daneben die rothaarige Frau und der große Mann, die beide gebannt auf die zuckende Saite starrten, deren Licht unheimliche Schatten auf ihre Gesichter warf. Schließlich löste sich die Frau aus ihrer Erstarrung, nahm das Tuch von ihrem Mund, hob die Hände – und begann zu singen. Es war ein einziger langer Ton, der ihrer Kehle entwich und sofort den ganzen Raum erfüllte. Und der Flügel fühlte, dass sich etwas veränderte. Es war, als ob der Boden unter seinen hölzernen Beinen weicher wurde. Nun begann auch der große Mann zu singen. Den gleichen Ton. Lang anhaltend. Ohne Pause. Immer lauter werdend. Und plötzlich hörte die Saite auf zu zucken. Sie wurde zu einer geraden Linie, leuchtete aber immer heller. «Wie ein großer Eiszapfen aus Licht», dachte der Flügel. «Wie ein Schwert, das …»
    Dann erstarrte er, denn der Mann hob nun, immer lauter singend, die leuchtende Saite hoch und hielt sie drohend über den Korpus des Flügels. Der ganze Raum bebte von dem bohrenden Ton, den die beiden Gestalten sangen, beinahe kreischten. Sie wurden lauter und lauter. Die Luft begann zu flirren, die Landschaft hinter den Fenstern
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