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Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Titel: Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
Autoren: Kester Schlenz , Joja Wendt
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Theodora blickte weiter wortlos hinab. Ihr stechender Blick wanderte über Flöten, Geigen, Celli und die anderen Instrumente – und verharrte schließlich auf dem Flügel.
    Ein ungeheuer lauter, mächtiger Ton aus mehreren Pfeifen der Orgel ertönte und ließ den Flügel zusammenzucken. Und dann hörte er ihre tiefe Stimme.
    «Willkommen in meiner Welt, kleiner Flügel. Einen wie dich brauchte ich noch. Ein so schönes, besonderes Instrument, das die Gabe hat, die Gabe, vollkommene Musik zu erzeugen. Du wirst gut zu uns passen. Aber wir kommen später zu dir.»
    Sie hob ihre beiden äußeren Pfeifen wie gigantische Arme in die Luft und rief in die Halle hinein: «Lasst uns den Flügel angemessen begrüßen. Spielt dies!»
    Und wie von Zauberhand flogen Notenblätter aus Öffnungen im Boden, segelten durch die Luft und verharrten schließlich wie eingefroren vor jedem einzelnen Instrument.
    «Auf mein Zeichen!», dröhnte die Orgel und hob einen großen Taktstock mit einer ihrer Pfeifen. Und als sie ihn hinabsausen ließ, begannen alle Instrumente sofort zu spielen, in perfektem Zusammenspiel. Es klang gewaltig. Der Flügel kannte das Stück. Es war von Ludwig van Beethoven, der Anfang der Fünften Sinfonie. Hochwertige, jahrhundertealte Holz- und Blechinstrumente setzten die Noten des großen Komponisten in Musik um, und das taten sie perfekt. Dennoch störte den Flügel etwas. Ja, es klang perfekt. Aber … das war es – es klang zu perfekt. Wie von Maschinen gespielt. Notengetreu, handwerklich sauber, ohne Fehler, aber seelenlos. Hier war kein Gefühl im Spiel.

    Die Orgel dirigierte zuckend wie eine gigantische Krake, und den Instrumenten war die Anstrengung anzusehen. Es war offensichtlich, dass alle krampfhaft versuchten, sich nicht zu verspielen, und Theodora lauschte dem Gespielten ergriffen. Sie war sehr zufrieden. Seit vielen Jahrhunderten regierte sie nun mit eiserner Hand das magische Reich der Musik. Sicher, da gab es unten in der großen Ebene noch die eine oder andere sonderbare Kreatur, aber die fürchteten sie und blieben, wo sie waren.
    Und dann war da noch oben in den Bergen dieser «Hüter der Rhythmen», der hatte Macht, aber keinen Ehrgeiz. Er konnte ihr kaum gefährlich werden. Außerdem war er weit weg. Mit ihm lebte sie in friedlicher Koexistenz, machte sogar interessante Tauschgeschäfte. Sie aber war etwas Besonderes. Nur sie wusste von der geheimen Quelle, die ihre Kraft stetig nährte und ihr beinahe absolute Macht verlieh.

    Ja, sie! Es konnte doch nur eine Orgel sein, die herrschte! Kein anderes Instrument konnte Töne länger aushalten, keines mehr Stimmen zugleich ausführen. Nur eine Orgel war in der Lage, ihre Töne mit Hilfe der vielen Manuale und Register so zu manipulieren, dass sie ihre Gestalt ändern und sich wie ein Chamäleon klanglich in jedes andere Instrument verwandeln konnte. Sie war berufen zu herrschen, und hier, in dieser Welt, hatte sie zu ihrer Bestimmung gefunden: die absolute Kontrolle über die Musik zu erlangen. Und nicht nur hier – überall! Bald war es so weit. Der neue Flügel konnte ein entscheidender letzter Baustein sein. Und wenn nicht? Es würde andere geben. Ihre Schergen waren ständig in der Menschenwelt unterwegs, auf der Suche nach den besten Instrumenten. Und wer nicht gut genug war, würde ihren Zorn zu spüren bekommen. Wie der letzte Flügel, der zerschmettert am Fuße des Turmes lag, weil er sie mit seiner Mittelmäßigkeit enttäuscht hatte.
    Sie holte noch einmal tief Luft und stimmte mit in Beethovens Sinfonie ein.

    Theodoras riesige Pfeifen wurden von der niemals versiegenden Kraft des eisigen Windes genährt, der vom gebirgigen Norden her wehte und den sie am Boden des Turmes mit Hilfe riesiger Lüftungsklappen ansaugte.
    Das Orchester spielte hervorragend heute. Sie blickte zur Seite. Dort standen zwei ihrer kleinen Verwandten und mühten sich ebenfalls redlich: eine Celesta und ein Cembalo. Als Tasteninstrumente durften sie bei ihr oben im Turm wohnen, sehr nah am Zentrum der Macht und deshalb auch bestens unter Kontrolle. Nur der Platz des Flügels war verwaist. Noch.
    Sie blickte hinab. Niemand wich auch nur ein Jota von den Noten ab. So sollte es sein. So musste es sein! Ihr Blick streifte den Flügel, der starr vor Angst unten in der großen Halle stand. Sie hatte sehr viel Gutes über ihn gehört; dieser Ogermann hatte von der Gabe seines Flügels gewusst. Solche Instrumente brauchte sie, und sie ließ sie von ihren
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