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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling
Autoren: Jutta Mehler
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»Das gehört doch zu einem richtigen Sonntag dazu.«
    »Nimmst ihn mit?«, fragte Anna.
    Gerda zog eine Braue hoch.
    »Dann soll er halt mitgehn«, sagte Anna.
    »Gerhard«, rief Ulrich überrascht aus, als er am Himmelberghof in die gute Stube trat, und sah den alten Freund erschrocken an. Gerhard schien ihm um Jahrzehnte gealtert.
    Der Chef der ehemaligen Hafenbande erhob sich schwerfällig, klopfte Ulrich auf die Schulter und grinste schief. »Täusch ich mich, oder sind wir bald verwandt, wir zwei?«
    Während sich Ulrich noch bemühte, Gerhards Frage zu verstehen, schoss ein Kind aus einer Ecke, wo es mit einer Puppe gespielt hatte, auf Gerhard zu, hängte sich an seinen Hemdärmel und quengelte: »Wann darf ich denn wieder mit in die Limofabrik, Papa?«
    Ulrich verschluckte sich. Papa? Das Kind hatte einen enormen Überbiss, schwarze Knopfäuglein und glatte schwarze Haare. Es sah dem blonden, blauäugigen Gerhard so ähnlich wie die Haselmaus dem Perlhuhn.
    Eine junge Frau befreite Gerhard von den klammernden Kinderhänden. »Lass den Papa aus, setz ihm net so zu. Er is müd. Ich hab dir doch erklärt, dass er furchtbar viel arbeiten muss, weil der Onkel Keisling krank geworden ist.«
    »Renate«, stellte Gerhard die Frau vor. »Wir heiraten im Frühjahr. Und wann machts ihr zwei Nägel mit Köpfen?«
    Ulrich hatte gar nicht mitbekommen, dass er etwas gefragt worden war. Er musste das Kind anstarren. Es war ein Mädchen, fünf oder sechs Jahre alt, und irgendetwas an ihm kam Ulrich seltsam vertraut vor, so als hätte er es einmal im Traum gesehen oder in einem Film. Während er Gerda sagen hörte: »Bei uns pressiert’s nicht mit dem Heiraten«, schüttelte Ulrich unmerklich den Kopf. Was für ein Unsinn. Ähnlichkeiten gab es immer und überall. Hatte ihn nicht auch Carmen – Gerhards Freundin aus Mitterwallner Zeiten – manchmal vage an jemanden erinnert? Und dieser Kommisskopf erst, der Carmen für sich hatte haben wollen, der war ihm auch so bekannt vorgekommen.
    Ulrich blickte wieder auf das Kind. Ja, der Kommisskopf und dieses Mädchen glichen sich sehr. So sehr, dass …
    Warum denn nicht, dachte Ulrich. Warum soll der Kommisskopf nicht der Vater von dem Mädchen sein? Er hat es gezeugt und sich dann aus dem Staub gemacht. Kam so etwas nicht alle Tage vor?
    Man bat Ulrich, sich an den Tisch zu setzen, schenkte ihm Kaffee ein und legte ihm ein Stück Kuchen auf den Teller. Gerhard nahm neben ihm Platz und begann von alten Zeiten zu reden und davon, dass es bei Weitem lustiger sei, Bandenchef und designierter Brauerei-Erbe zu sein, als wirklicher Boss, Geschäftsführer und Betriebsleiter.
    Gegenüber von Ulrich unterhielt sich Gerda mit Renate. Weiter oben am Tisch war Willi, der Bauer, über seinem Kaffee eingeschlafen. Seine Frau wand ihm gerade die Kuchengabel aus der Hand. Vis-à-vis von den beiden saß Anna Langmoser neben Liesl. Die beiden flüsterten miteinander, aber es hörte sich an, als würden kleine Pfeile zwischen ihnen hin- und herschwirren.
    »Das is ja nicht zu glauben«, zischelte Anna. »Der Gerhard will das Balg für ehelich erklären lassen?«
    »Warum denn nicht?«, antwortete Liesl hochnäsig. »Schließlich ist die Kleine das Kind seiner Frau.«
    Anna dachte eine Weile über die Konsequenzen von Gerhards Entscheidung nach, dann schnappte sie nach Luft. »Das heißt ja, das Balg wird die Brauerei erben.«
    »Wohl nicht ganz«, erwiderte Liesl. »Die Renate ist vom Gerhard schwanger.«
    So hat sie ihn sich also eingefangen, dachte Anna.
    »Weiß eigentlich das böhmische Ratzengfries …«, begann sie nach einer Pause, aber Liesl unterbrach sie.
    »Der Adoptivsohn vom Max heißt Wolli – auch für dich. Und wer der Vater von der kleinen Marie ist, geht niemand was an – auch dich nicht.«
    »Hat sich ja schon lang nicht mehr sehen lassen, euer Wolli«, meinte Anna.
    »Vielleicht kommt er zur Hochzeit«, sagte Liesl darauf.
    Anna sah sie verschlagen an. »Und wenn er Ansprüch stellt – auf das Kind?« Zufrieden registrierte sie, dass Liesl erschrak.
    »Vielleicht sollte man den Wolli benachrichtigen«, schob Anna nach. »Nicht dass es bei der Hochzeit eine böse Überraschung gibt.«
    Liesl wirkte geradezu bestürzt.
    Anna tätschelte ihre Hand. »Ich schau mal, ob ich ihn nicht ausfindig machen kann – den Wolli.«
    Noch bevor Anna Langmoser Zeit fand, sich nach Wolli umzuhören (sie hatte sich vorgenommen, Max und Rita einen Besuch abzustatten, um die beiden über ihn
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