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Der kleine Erziehungsberater

Titel: Der kleine Erziehungsberater
Autoren: Axel Hacke
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Schnuller. Hellblaue Schnuller. Gestreifte Schnuller. Geschnullerte Schnuller. Ach, wie waren wir glücklich! Wir liefen in den Garten und wateten in Schnullern. Ließen uns Schnuller aufs Haupt prasseln. Bewarfen uns damit. Steckten sie in den Mund, schaufelten sie ins Haus, wälzten uns darin. Endlich genug Schnuller! Nie mehr Schnuller suchen müssen, nie mehr unter Tischen und Bänken herumkriechen mit lockendem »nuuuucknucknuckkoooommkommkomm«, nie mehr nachts mit entzündeten, rotgeweinten Augen durchs Kinderzimmer krauchen, halbblind vor Schlaflosigkeit, halbtaub vor Kindergebrüll, auf der Suche nach dem einen, dem letzten, dem rettenden Schnuller.
    Dann erwachte ich, weil ein Kind schrie.
    Ich weiß nicht, ob man Kinder auch ohne Schnuller aufziehen kann. Es soll Leute geben, die das probieren. Ich habe noch nie mit ihnen gesprochen, denn man sieht sie selten auf der Straße. Vermutlich beruhigen sie zu Hause ihre Kinder. Ich gestehe, dass ich es vorziehe, einen solchen Stöpsel zur Hand zu haben.
    Das Problem besteht nur darin, dass man eben einen Schnuller selten zur Hand hat. Schnuller verschwinden ständig. Gibt man Marie einen neuen Schnuller, ist er nach anderthalb Stunden weg. Man findet ihn vielleicht noch einmal unter dem Kinderstühlchen, beim zweiten Mal nirgends mehr. Als wir dasbegriffen hatten, kauften wir nie weniger als drei Schnuller auf einmal, um wenigstens für einen Tag genug zu haben. Heute fegen wir den Inhalt des Schnullerregals im Supermarkt mit dem Ellenbogen in den Einkaufswagen. Nachts legen wir das Kind in ein Bettchen, das zehn Zentimeter hoch mit Schnullern gefüllt ist. Gerade das Gesicht guckt noch heraus. Morgens ist das Bett leer, das heißt: Marie ist natürlich noch da. Aber die Schnuller nicht.
    Isst sie Schnuller? Vergräbt sie sie heimlich, um sie für ihre eigenen Kinder aufzubewahren?
    Es ist anders. Die heimtückische, gewissenlose Schnullerindustrie hat, um ihren Umsatz zu steigern, in alle Schnuller einen winzigen Mechanismus eingebaut. Mit einer Zeituhr verbunden, löst er den Schnuller nach kurzer Gebrauchszeit spurlos auf. Er verschwindet dematerialisiert im Nichts. Ich habe das entdeckt, als ich einmal einen Schnuller gründlich untersuchte und auseinanderbaute. Der Mechanismus befindet sich innen im Sauger, die Zeituhr im Ring des Schnullers. Wenn man ihn ans Ohr hält, hört man es ganz leise ticken.
    Glauben Sie mir! Ich bin nicht verrückt. Nur müde. So müde.
Hexenkummer
    E s waren einmal ein Mann und eine Frau, die wohnten mit ihren drei Kindern in einem wunderschönen Reihenhaus irgendwo in den alten Bundesländern. Die beiden älteren Kinder hießen zufällig Hänsel und Gretel. Das dritte Kind lassen wir mal beiseite, das tut hier nichts zur Sache.
    Hänsel und Gretel stritten sich unentwegt. Schon morgens beim Anziehen brüllte Gretel: »Mein Kleid ist geblümter als deine Hose!« Hänsel, der kleinere, stürzte wutschnaubend auf sie zu und verprügelte sie. Auf dem Weg zum Frühstück rief er: »Ich geh’ aber schneller die Treppe runter als du!« Da stürzte Gretel wutschnaubend hinter ihm her und verprügelte ihn. Hänsel heulte entsetzlich und sagte beim Mittagessen: »Meine Nudeln sind aber weicher als deine, blöde Kuh!« Gretel erwiderte: »Was man sagt, ist man selber.« Dann stürzten sie beide wutschnaubend um den Tisch herum, trafen sich auf halber Strecke und verprügelten sich gegenseitig.
    Die Eltern waren so verzweifelt, dass sie beschlossen, die beiden Kinder in einem Wald auszusetzen. Sie hatten sich immer ein harmonisches Familienleben gewünscht und hielten den Streit nicht mehr aus.
    Die Kinder bekamen Wind von dem Plan und sammelten Kieselsteine, um den Rückweg zu markieren. Aber sie verrieten sich schon auf dem Weg in den Wald, weil sie sich lauthals stritten, wer die größeren Steine hätte. Außerdem wussten die Eltern sowieso längst von diesem Plan; schließlich hatten sie den beiden selbst das Märchen von Hänsel und Gretelschätzungsweise fünftausendmal vorgelesen. Also sammelten sie die Kiesel wieder ein, nachdem sie die Kinder ausgesetzt hatten.
    So liefen Hänsel und Gretel zunächst orientierungslos durch den Wald, bis sie zum Haus der alten Hexe kamen, das aus Brot gebaut war und ein Dach aus Kuchen sowie Fenster aus Zucker hatte. Da brachen sich die Kinder sofort zwei Fenster heraus, und Gretel sagte: »Mein Fenster ist süßer als deiheins!« Hänsel antwortete: »Neihein!« Das irritierte die Hexe, aber sie
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