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Der kleine Erziehungsberater

Titel: Der kleine Erziehungsberater
Autoren: Axel Hacke
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auftauchte, waren in der Plastiktüte schon vier Euro dreißig.
    Gegen solchen Erwerbstrieb kann man nicht anerziehen. Vielleicht kann ich in zwanzig Jahren mit dem Schreiben aufhören, wenn der Junge genug gesammelt hat. (Aber bedenken Sie bitte, wenn er zu Ihnen kommt: Ich hab’ ihn nicht geschickt.)
Liebesspiele
    J a, ich denke schon, dass die Kinder heute immer früher reif werden, sexuell meine ich (politisch wahrscheinlich auch, aber davon später). Der Erziehungsberater erinnert sich, dass er mit acht Jahren zum ersten Mal heiraten wollte, ein Mädchen namens Uta. Heute haben die Kinder solche Vorstellungen und noch ganz andere bereits mit sechs. Anne jedenfalls steht morgens eine Viertelstunde lang vor dem Spiegel, malt die Lippen grellrot an und die Augenlider hellblau und erzählt beim Frühstück von ihrer Beziehung zu Felix, dem Nachbarjungen, sechs Jahre alt auch er. Neulich hat Antje die beiden nackt in Annes Bett erwischt. (So weit ist es zwischen Uta und mir überhaupt nie gekommen.) »Wir spielen verliebt!«, haben sie gebrüllt und sich die Decke über die Ohren gezogen, so dass man nur noch gedämpftes Kichern hörte.
    »Ja, und wie reagiert man da in so einer Situation?«, fragte besorgt eine kinderlose Kollegin. Gott, wie reagiert man?! Man sagt: »Möchtet ihr noch etwas Kakao?« Oder: »Vergesst nachher nicht, die Bauklötze aufzuräumen.« Und dann geht man eben wieder.
    So weit ist ja gegen diese Beziehung nichts einzuwenden. Der Felix ist ein netter Kerl, solange man ihm vom Obstsalat nicht die Maraschino-Kirsche wegisst – dann bekommt er ganz rote Haare und schmeißt mit Glas. Anne hat gesagt: »Ich finde, dass der Felix lieb ist. Wenn er mich haut, kommt er sofort und entschuldigt sich.«

    »Sag’ mal, Anne, wäre es dir nicht noch lieber, er würde dichgar nicht hauen?« Jaja, hat Anne geantwortet, sie habe das auch nur zum Spaß gesagt. »Neulich habe ich zum Beispiel die Augen zugemacht, und er hat mich gegen die Haustür geschubst, und es hat gar nicht wehgetan – sooo lieb ist er!« Der Felix.
    Also, es ist eine überaus harmonische Beziehung, voller Rücksichtnahme und Zärtlichkeit und außerdem sehr praktisch, weil Felix, wie gesagt, gleich im Reihenhaus nebenan wohnt. Sollte übrigens eines von den anderen Reihenhäusern frei werden, weil jemand auszieht, hat Anne gesagt, »dann ziehe ich mit dem Felix da ein«.
    Ich nehme an, nächstes Jahr ist es so weit.
Das UFO-Kid
    M anchmal ist die Welt dem Erziehungsberater so fremd, und er versteht seine Kinder nicht.
    Durch einen Türspalt späht er abends ins Kinderzimmer und sieht den Max, einen Stoffhund im Arm …, doch er schlummert nicht, noch nicht: Das Kind murmelt im Halbschlaf Zahlen. »Elf, zwölf, dreiunddreißig, neunundneunzig, hundert, tausend …« Was bedeutet das? Morgens sitzt er auf der Bettkante seiner Mutter und begehrt, dass sie auf seinen Rücken mit dem Finger Zahlen male, die er dann flugs errät, ein schönes, doch auch rätselhaftes Spiel, jedenfalls um sechs Uhr in der Früh. Beim Frühstück später, nicht nur bei irgendeinem Frühstück, sondern bei jedem Frühstück, stellt er Fragen, die etwa lauten: »Wie viel ist eins und null und fünf und tausend und null und neunundneunzig?« Abends, wenn ich das Märchen von Seite 94 vorlese, fragt er mitten im Satz: »Wie viel ist neun plus vier?« Lese ich die Geschichte von Seite 83, fragt er: »Wie viel ist acht plus drei?«
    Was ist das? Wer ist dieser Junge? Eine Wiedergeburt von Adam Riese? Von Carl Friedrich Gauß? War in meiner Familie in früheren Generationen je ein Zahlen-Mystiker, ein Rechen-Schamane? Oder murmelt er Zauberformeln? Verkehrt er so mit außerirdischen Wesen, die ihm lauschen? Hat man uns den Abgesandten eines anderen Sterns ins Nest geschoben?
    Wahrscheinlich ist er einfach fasziniert von Zahlen, von deren Magie, ihrer Aura. Buchstaben interessieren ihn nicht. Er hat gehört, Pippi Langstrumpf sei neun Jahre alt, und als wirmit dem Auto hinter der Buslinie neun herfahren, schreit er plötzlich: »So alt ist Pippi!«
    Kein Ende des Rätsels. Neulich hat er einen Satz gesagt, den ich gern in Stein hauen würde: »Gottesdienst ist die höchste Zahl, aber die gibt es nicht mehr.«
    Gottesdienst. Die höchste Zahl. Gibt es nicht mehr. Also doch: Er ist uns vom Jupitermond Ganymed geschickt worden. Ein UFO-Kid.
    »Aber, Max, Gottesdienst ist doch keine Zahl.«
    »Doch.«
    »Wer hat denn das erzählt? War es Mike? Josef? Philipp?
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