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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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mich. Ein stillschweigendes Einverständnis: Nimm's nicht persönlich, Onkelchen, aber diese ganze Sache mit der Heilung ist ja eigentlich nichts für dich. Aber in diesem Leben wird die Bitte nicht ausgesprochen, auch wenn ich noch so sehr darauf warte.
    Die Zeitungen werden widerwillig von einigen hunderttausend Demonstranten berichten. Aber es ist eine Million, ohne Zweifel. Es sind Abermillionen; ganze Generationen. Noch nie habe ich eine so große Versammlung erlebt. Ich hatte Klaustrophobie erwartet, Agoraphobie, ein würgendes Gefühl wie Lampenfieber. Aber ich fühle nur einen Ozean aus Zeit. Dinge, die zu sich selbst finden. Das Gefühl wächst, seltsam und wunderbar und so unvollkommen wie alles Menschliche, nur um ein Vielfaches größer.
    Ich weiß nicht, was meine Neffen sehen. Ihre Gesichter zeigen nur freudige Erregung. Eine Million ist nichts für sie. Nichts im Vergleich zu dem, was sie aus dem Fernsehen kennen, im Vergleich zu den Riesenleinwänden, den gigantischen, weltweit übertragenen Konzerten, den globalen Attraktionen, die sie Tag für Tag ins Haus geliefert bekommen. Aber vielleicht sind sie ja genau da, wo auch ich bin, ebenso beeindruckt von dieser millionenfachen improvisierten Umkehr, dieser Sehnsucht nach Erlösung. Vielleicht spüren auch sie, wie das Gemeinsame über alle Unterschiede triumphiert. Ohne Mischung keine Bewegung. Das ist es, was der Millionenprediger meint, auch wenn er glaubt, er sage etwas anderes. Wer ist denn wirklich sich selbst genug? Solange wir nicht von all den Orten kommen, an denen wir gewesen sind, werden wir nicht an die Orte gelangen, zu denen wir unterwegs sind.
    Kwame reckt den Hals, weil er das Podium und die Redner sehen will. Robert – Ode –, erschöpft von so vielen Reden, findet einen Freund in seinem Alter. Sie mustern sich zunächst argwöhnisch, dann suchen sie eine freie Stelle und bringen sich neue Breakdance-chritte bei. Die Prominenten, Sänger und Dichter absolvieren ihre Auftritte und räumen dann das Feld für den Prediger. Er hat die Menge fest im Griff. Er redet von Moses, Jesus, Mohammed. Dann ein paar abfällige Bemerkungen über Lincoln, über die Gründerväter der Nation, und selbst Kwame jubelt. Er sagt, dass alle Propheten unvollkommen sind. Er sagt, wir sind jetzt tiefer gespalten als beim letzten Mal, als wir alle schon einmal hier versammelt waren. Er gerät vom Thema ab, kommt auf abstruse Zahlenspiele. Aber am Ende ist er immer wieder bei der Zwei. Bei der langen Trennung.
    »Und so stehen wir heute hier, in diesem historischen Augenblick.« Die Stimme verhallt, dünn und blechern, verliert sich in der endlosen Weite, die sie ausfüllen muss. »Wir stehen hier stellvertretend für all diejenigen, die nicht dabei sein können. Wir stehen auf dem Blut unserer Vorfahren.«
    Die Menschen ringsum rufen Namen. Wie in einer riesigen Kirche. Meine Neffen kennen das schon, von anderswo. »Robert Rider«, ruft Kwame, und seine Stimme ist brüchig, nicht weil er sich erinnert, sondern weil er keine Erinnerung hat. »Delia Daley.« Er könnte auch noch weiter zurückgehen.
    »Wir stehen auf dem Blut all derer, die auf den Sklavenschiffen gestorben sind ... in dem Bruderkrieg ...«
    Die Umstehenden nennen die Namen ihrer Toten, und weil er meine Gegenwart spürt, sagt mein Neffe: »Jonah Strom.«
    Die Vorstellung ist so absurd, dass ich lachen muss. Durch den Tod verwandelt, hat mein Bruder nun doch noch seinen Auftritt auf der politischen Bühne. Dann höre ich, wie der kleine Robert seinem neuen Freund stolz erklärt: »Mein Onkel ist bei den Unruhen in Los Angeles umgekommen.« Und in einer anderen Welt war es ja wohl wirklich so. Der letzte Eintrag in seiner Vita, in seiner langen Erfolgsgeschichte.
    »Eine vollkommenere Gemeinschaft.« Der Prediger weiß nicht, wovon er redet. Wenn es diese Gemeinschaft erst einmal gibt, wird niemand mehr seine Aufrufe zur Loyalität brauchen, wenn die Loyalität uns nicht ohnehin alle vorher umbringt. Ich stehe in dieser Millionenmenge, eine Milliarde Meilen entfernt, und grinse wie der Idiot, für den mein Bruder mich immer gehalten hat. Ein alter deutscher Jude hat es mir erklärt, vor langer Zeit: Die zunehmende Vermischung zeigt uns die Richtung des Zeitpfeils. Ich habe die Zukunft gesehen, und die Zukunft gehört den Mischlingen.
    Kwame wählt ausgerechnet diesen Augenblick, um mir etwas zuzuflüstern. »Der Typ ist ein Schwachkopf. Jeder Idiot sieht doch, wo es langgeht. Es gibt nur eine
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