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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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mit Sicherheit das am schlechtesten vorgetragene. Ruth sang »Bist du bei mir«, das kleine Lied, das Bach nie geschrieben hat.
     
    Bist du bei mir, geh ich mit Freuden
    Zum Sterben und zu meiner Ruh.
    Ach, wie vergnügt war' so mein Ende,
    Es drückten deine lieben Hände
    Mir die getreuen Augen zu!
     
    Wir hörten uns an, als hätten wir seit der Trauerfeier für unsere Mutter nicht mehr gesungen. Als machten wir gerade erst Bekanntschaft mit der Musik, seien eben erst daraufgestoßen. Als würden wir nie zur Tonika zurückfinden. Als sei die Tonika auf Wanderschaft gegangen, ständig in Bewegung, als bliebe das Do nie an seiner Stelle. Als müsse jeder einmal jedes Lied gesungen haben, bevor alles zu Ende ging. Ruth sang, wie sie ihn in Erinnerung hatte, ohne einen Taktstrich, der uns trennte. Und er lebte in ihrer Stimme.
    Meine Schwester war zum ersten Mal im Ausland. Sie stand oben auf dem Mont des Arts, dem Kunstberg, und weinte vor Staunen über jede kleine Banalität am Straßenrand. Lange Zeit konnte sie das Gefühl, das von ihr Besitz ergriffen hatte, nicht beschreiben. Dann hörten wir mitten auf der Grande Place, wie ein schwarzes Paar mit heller Haut und kann-igen Gesichtszügen die Zunfthäuser auf Portugiesisch bewunderte.
    »Kein Mensch hier hat eine Ahnung, woher ich komme. Keiner interessiert sich dafür, wie ich hergekommen bin. Sie versuchen es nicht einmal zu erraten. Ich bin ihnen vollkommen gleichgültig.« Die grenzenlose Freiheit machte ihr Angst. »Wir müssen zurück nach Amerika, Joey.« Zurück in unser entsetzliches Utopia, den Traum der Zeit. Das, wofür die Zukunft erfunden worden war, eine Zukunft, die immer wieder neu geschaffen wurde.
    »Wie weit ist es nach Deutschland?« Ich sagte es ihr, und sie schüttelte den Kopf, verschüchtert. »Das nächste Mal.«
    Der kleine Robert stellte sich auch Wildfremden mit seinem afrikanischen Namen vor. Er fand es aufregend, wenn jemand fragte, ob er aus dem Kongo komme. Auf dem Rückweg nach Kalifornien parlierte er mit den Stewardessen auf Französisch und auf Flämisch.
     
    Wenn unser Vater Recht hatte, dann fließt die Zeit nicht, sondern ist einfach. In einer solchen Welt sind wir alles, was wir je waren oder sein werden. Aber in einer solchen Welt können wir auch nie etwas anderes werden oder gewesen sein, als wir jetzt sind.
    Und so stehe ich mit meinen beiden Neffen am Rand der spiegelnden Wasserfläche. Ihre Mutter haben wir trotz ihrer Proteste im Smithsonian Museum zurückgelassen. »Ich verstehe nicht, warum ich nicht mitkom-en darf. Ich werde auch kein Wort sagen.«
    »Wir haben das doch schon tausendmal durch«, sagt ihr Ältester noch ein weiteres Mal. »Du hast es mir versprochen, vor der Abfahrt.«
    »Was soll das denn für ein Bündnis sein, wenn die Frauen zu Hause bleiben müssen?«
    »Wer sagt, dass die Frauen zu Hause bleiben müssen? Die Frauen können sich in unserer Bundeshauptstadt frei bewegen, können hingehen, wo sie wollen. Warum gehst du nicht zur Howard-niversität? Da hat dein Opa doch ...«
    »Maya Angelou wird da sein. Die ist auch eine Frau. Sie wird sogar eine Rede halten.«
    »Mama, du hast es versprochen. Bitte ... tu uns den Gefallen, ja?«
    Und so sind nur wir drei Männer auf der Mall. Man wird mich entdecken und nach Hause schicken. Gleich werden meine Neffen mich bitten, im Hotel auf sie zu warten.
    Kwame steht in dieser gewaltigen Menge, erschüttert von der schieren Masse. Es ist ein milder Oktobertag, aber er zittert. Er kann sich nur it Mühe auf den Beinen halten, schwankt wie eine Strandhütte in schwerer Brandung. Das hier ist sein Tag, seine Buße, sein Fluchtplan, und alles hängt davon ab, dass es funktioniert. Aber es verschlägt ihm den Atem, als er sieht, wie viele außer ihm noch gekommen sind.
    Schon seit zwei vollen Jahren ist er nicht mehr im Gefängnis gewesen. Eine Verwarnung wegen erhöhter Geschwindigkeit, ein Räumungs-efehl, aber keine Sklavenarbeit mehr. »Das ist vorbei«, sagt er. »Der Kwame ist tot.« In den zwei Jahren, die er auf freiem Fuß ist, hat er vier-al die Arbeit gewechselt und in drei neuen Bands gespielt. Die Jobs sind jedes Mal härter geworden, die Musik ein klein wenig melodischer. Vor zwei Monaten hat er eine Stelle als Schweißer angetreten. Als er die Zusage bekam, sagte er: »Da bleibe ich jetzt eine ganze Weile, Onkel Jojo.« Ich antwortete, da sei ich mir sicher.
    Er steht in der wogenden Menge und redet mit einem Wildfremden, einem bronzefarbenen
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