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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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bezeichnet. David Strom ist viel zu verblüfft, um über etwas entsetzt zu sein.
    Sie lassen sich auf den Stufen nieder. Sie hält Ausschau nach einem verzweifelten Neger auf der Suche nach dem verlorenen Familienmitglied. Er tröstet derweil den Jungen. Er tut es mit einer mühelosen Selbstverständlichkeit, die sie überrascht. Vom ersten Augenblick an verstehen sie sich. Binnen einer Minute reden sie über Sterne und Planeten, Frequenzen und Wellenlängen, gewaltige Entfernungen, die keine Botschaft je überbrücken kann, Materie, so dicht, dass der Raum in sie hineinstürzt, Orte, an denen alle Regeln der Geometrie im Zerrspiegel des Schöpfers aus den Fugen geraten. Sie hört, wie der Mann dem Jungen erklärt: »Alles, was sich bewegt, hat seine eigene Uhr.« Dann widerspricht er sich selbst und behauptet, dass es gar keine Zeit gebe, dass die Zeit einfach nur unveränderliche Veränderung ist, nicht weniger und nicht mehr.
    Dieser Gedanke fesselt den Jungen so sehr, dass er für eine kleine Weile vergisst, dass er sich verlaufen hat. Wie jeder Junge hat er eine ganze Million von Fragen – ob die Naturgesetze auch für Raketen gelten, wie schnell das Licht ist, Fragen nach der Krümmung des Raums, nach Botschaften in der Zeit, die plötzlich freigesetzt werden. Wie? Wo? Wer? Sie sieht den beiden zu, wie sie Pläne für Reisen in sämtliche Dimensionen spinnen. Sie hört die Stimme ihrer eigenen Vorurteile: Wozu soll ein schwarzer Junge mit so was seine Zeit vergeuden? Aber dann denkt sie: Gehört der Himmel etwa auch den Weißen, genau wie »O mio Fernando«?
    Der Junge sprudelt über vor Ideen. Sie hört die Antworten des Mannes; nichts nennt er unmöglich, immer hält er alles in der Schwebe mit dem Vielleicht, mit dem er auch der unmöglichen Altstimme gelauscht hat. Mit dem er Delia selbst gelauscht hat: erst den Noten, dann der Melodie. Sie runzelt die Stirn: Natürlich gibt es keine Zeit. Natürlich gibt es nichts als die unveränderliche Veränderung. Die Musik weiß, dass es so ist. Sobald man seine Stimme erhebt und singt.
    Er sitzt auf den Stufen, in seinem zerknitterten Anzug, und redet mit dem Jungen. Als sei es die einfachste, die natürlichste Sache von der Welt. Und der Junge beruhigt sich, stellt Fragen über Fragen und kommt aus dem Staunen nicht heraus. So sieht sie ihn auf Jahre hinaus, Jungen an einem Tisch, Fragen und Antworten. Und dann sieht sie ihn nicht mehr. Ihr Herz krampft sich zusammen, eine Todesstarre so greifbar, dass sie nichts dagegensetzen kann.
    Plötzlich springt der Junge erschrocken auf, alle Freude verflogen. »Wieso seid ihr zwei zusammen? Wisst ihr denn nicht Bescheid über Schwarze und Weiße?«
    Sie weiß Bescheid. Auf der anderen Seite des Potomac, nur ein paar Hundert Meter von der Stelle, an der sie sitzen, ist die Liebe zwischen einem weißen Mann und einer schwarzen Frau ein schlimmeres Verbrechen als Diebstahl, schlimmer als Körperverletzung, genauso hart bestraft wie fahrlässige Tötung. David Strom wirft Delia einen fragenden Blick zu, sucht die offizielle Erklärung der Erwachsenen. Aber sie hat keine Erklärung.
    Der Junge schüttelt den Kopf. Gerade sie sollte es doch besser wissen. »Der Fisch und der Vogel können sich verlieben. Doch wo bauen sie ihr Nest?«
    Jetzt fährt der Deutsche zusammen, wie vom Blitz getroffen, mehr als ein Reflex. »Woher hast du das?« Der Junge vergräbt die Hände ängst-lich in den Achselhöhlen. »Das ist ein jüdisches Sprichwort. Wo hast du dieses Sprichwort gelernt?«
    Der Junge zuckt mit den Schultern. »Meine Mama hat es gesungen. Mein Onkel.«
    »Bist du Jude?«                                                                   
    Unwillkürlich muss Delia lachen, doch dann lässt der Schreck sie verstummen. Die Augen dieses Mannes blicken sie flehend an, bitten um eine Erklärung. Am liebsten würde sie auf der Stelle sterben.       
    Der Wissenschaftler kann es nicht glauben. »Das ist ein jüdisches Sprichwort. Meine Großmutter hat das immer gesagt. Meine Mutter. Sie wollten sagen, man darf niemals ... Sie dachten, die Zeit ...«
    Aber sie weiß, was sie sagen wollten. Sie kennt seine Leute, auch ohne Worte. Es steht ihm ins Gesicht geschrieben: Das, was sie mit diesem Verbot verhindern wollten, und das Verbot, das sie trotzdem vernichtet hat.
    Er ist fassungslos. »Wie kannst du das kennen, wenn du nicht ... Das ist erstaunlich. Gibt es das
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