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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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diese Schale zerbrach und zu Asche verbrannte. Jonah gleitet durch die Angst hinter der Bühne, durch die unterdrückte Übelkeit in den Garderoben, als sei das alles nur die Generalprobe für eine längst abgesagte Aufführung. Auf der Bühne, mitten in diesem Meer aus Panik, wirkt seine Ruhe elektrisierend. Die lässige Hand auf dem schwarzen Lack des Flügels betört die Zuhörer, nimmt den Klang seiner Stimme vorweg, noch ehe er den Mund aufmacht.
    Ich sehe ihn an diesem Abend seines ersten öffentlichen Triumphs, aus vier Jahrzehnten Abstand. Das Gesicht ist noch weich um die Augen, da wo das Leben später seine Spuren eingravieren wird. Das Kinn bebt ein wenig bei Dowlands Viertelnoten, doch die Töne sind makellos rein. Er neigt den Kopf nach rechts, als er zum hohen C ansetzt, als weiche er zurück vor den verzückten Zuhörern. Ein Schauder huscht über sein Gesicht, ein Blick, den nur ich erkenne, von meinem Platz hinter dem Flügel. Die Hakennase, die vollen braunen Lippen, die markanten Wülste über den Augen – beinahe mein eigenes Gesicht, nur leidenschaftlicher, ein Jahr älter, einen Ton heller. Der verräterische Ton: der dunkle Schatten unserer Schande.
    Der Gesang meines Bruders will die Guten erretten und die Bösen in den Tod treiben. Mit seinen zwanzig Jahren kennt er beide schon sehr genau. Das ist es, was seine Stimme zum Klingen bringt, was seine Zuhörer ein paar Sekunden lang den Atem anhalten lässt, bevor sie die Kraft zum Applaudieren finden. Sie hören den Abgrund, den diese schwerelose Stimme überbrückt.
    Das Jahr ist ein verschwommenes Schwarzweißbild, eingefangen von den lauschenden Ohren der Zimmerantenne. Die Welt unserer Kindheit – diese rationierte Radiowelt des großen Kriegs gegen das Böse – wird zum bunten Kodakbild. Ein Mensch fliegt ins All. Astronomen empfangen pulsierende Signale von künstlichen Himmelskörpern. Weltweit spielen die Vereinigten Staaten mit dem Feuer. Berlin kann jeden Augenblick in Flammen aufgehen. Südostasien ist ein Schwelbrand, nur Rauchkringel steigen aus den Bananenblättern auf. Zu Hause staut sich eine Welle von Neugeborenen hinter den Glasscheiben der Säuglingsstationen von Bar Harbor bis San Diego. Unser hutloser, junger Präsident spielt Football auf dem Rasen des Weißen Hauses. Spione, Beatniks und technische Neuerungen aller Art überschwemmen das Land. In Montgomery, Alabama, brennt schon seit fünf Jahren eine Lunte, deren Feuer ich erst fünf Jahre darauf sehen sollte. Und in Durham, North Carolina, lassen sich siebenhundert ahnungslose Menschen in einen Berg entführen, der sich von Jonahs Stimme auftut.
    Bis zu diesem Abend hat niemand außer uns meinen Bruder singen gehört. Jetzt ist das Geheimnis heraus. Als der Beifall losbricht, sehe ich hinter dem hastig aufgesetzten Lächeln ein Zaudern auf dem rostbraunen Gesicht. Er blickt sich um, sucht einen Schatten jenseits des Rampenlichts, in den er abtauchen kann, doch es ist zu spät. Mit unsicherem Grinsen und einer einzigen, oft geprobten Verbeugung nimmt er sein Urteil an.
    Noch zweimal holen sie uns mit ihrem Applaus zurück; beim zweiten Mal muss Jonah mich mit Gewalt auf die Bühne zerren. Dann verkünden die Preisrichter die Gewinner in den einzelnen Sparten – drei, zwei,          eins –, als sei die Duke-Universität Cape Canaveral und dieser Wettbewerb der Start einer weiteren Mercury-Kapsel, als sei Amerikas neue Stimme ein weiterer Shepard oder Grissom. Wir stehen hinter der Bühne, die anderen Tenöre umringen Jonah; sie hassen ihn schon jetzt und überhäufen ihn mit Lob. Ich bezwinge den Impuls, auf diese Gruppe einzureden, ihnen zu versichern, dass mein Bruder nichts Besonderes ist, dass alle Bewerber gleich gut gesungen haben. Die anderen werfen Jonah verstohlene Blicke zu, studieren sein nicht einstudiertes Auftreten. Sie analysieren seine Strategie für die nächste Runde. Erst der effektvolle Auftakt mit Schubert. Dann der linke Haken mit Dowland, dieser schwebende, lang gehaltenen Ton über dem hohen A. Das, was sie niemals sehen können, weil sie nicht genug Abstand haben, hat meinen Bruder längst mit Haut und Haaren verschlungen.
    Mein Bruder steht in seinem schwarzen Abendanzug im Gewirr der Schnüre hinter der Bühne und mustert die ansehnlicheren unter den Sopranistinnen. Steht still und schaut. Er singt für sie, private Zugaben, nur in seiner Phantasie. Alle wissen, dass er gewonnen hat, und Jonah müht sich, es herunterzuspielen. Die
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