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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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Mann, fast in meinem Alter. Er trägt ein Sweatshirt der Universität von Arizona und hat einen Sohn dabei, Jahre jünger als Robert. »Eigentlich mag ich den Burschen nicht sonderlich«, sagt der Fremde, halb entschuldigend.
    »Das geht allen so«, versichert Kwame. »Der Mann will Hass schüren. Aber das hier, das ist größer als er.«
    »Wusstet ihr, dass Farrakhan ausgebildeter Konzertviolinist ist?«, sage ich, selbst auf die Gefahr hin, dass ich Kwame verärgere. Verächtlich und bewundernd zugleich. Erinnerung an die Vergänglichkeit.
    »Was du nicht sagst. Ehrlich?« Beide Männer sind amüsiert – auch wenn der eine es gutheißt und der andere nicht.
    »Fragt sich nur, wie man mit so einer Krawatte überhaupt Geige spielen kann.« Das ist das Letzte, was unser unbekannter Freund sagt, bevor die Menge ihn verschluckt.
    Kwame blickt dem Mann nach, als er mit seinem Sohn an der Hand verschwindet. Plötzlich durchzuckt ihn die Erinnerung. Schuldbewusst ruft er: »Robert!«
    »Ode«, erwidert eine zornige Stimme aus zwei Schritt Entfernung.
    »Ganz wie du willst, Bruder. Aber du bleibst in der Nähe, klar?«
    »Ich bin doch nicht taub«, erwidert der Elfjährige mürrisch. Aber nur seinem Bruder zuliebe.
    Kwame ist sein Gott, und der Ältere kann nichts daran ändern. Als Kwame ins Gefängnis kam, erfand der kleine Robert die kompliziertesten Zahlenspiele und ausgeklügeltsten Rechnungen. Als er zurückkam, wollte sein kleiner Bruder nichts weiter als ihm ins Verderben folgen. »Schule ist was für Blöde«, erklärte der Junge. Entschlossen, stolz und
    ebenso scharfsinnig wie der Gott, dem er nacheiferte. »Für Blöde und Hausnigger.«
    »Wer sagt denn so was? Gib mir sofort seine Adresse. Ich muss mal ein paar Takte mit dem Typen reden.«
    Aber für den Jungen war jedes Wort eine Prüfung, ein Test seiner Coolness. »Erzähl doch keine Märchen. Wenn du die Schule so toll findest, wieso gehst du dann nicht mehr hin?« Wenn du die Weißen so magst, wieso bist du dann vorbestraft?
    »Komm mir ja nicht auf dumme Ideen, Schlaukopf. Lass den Quatsch. Dein eigener Vater. Dein Vater hat Mathematik studiert, Kleiner. Weißt du das nicht?« Und dein Großvater. Von irgendwo musst du es doch haben, oder?
    Sein kleiner Bruder zuckte nur mit den Schultern. Hip Hop, die weltweit kommende Kultur, zeigte doch nur, wie sinnlos das Leben als Onkel Tom war. Gestern war gestern, heute ist heute.
    »Mensch Kleiner, du bist doch mein Ticket in die Zukunft. Was ist denn aus deinen großen Zielen geworden?«
    Ode hatte dafür nur ein müdes Lächeln, denn er durchschaute den Trick. In seinen Augen gab es nichts Größeres. Nichts Größeres als seinen Bruder, den Ex-nacki.
    Das ist die Buße für meinen älteren Neffen, deswegen sind wir gekommen. Er hätte uns nicht dazu gebracht, nach Washington zu fliegen, er hätte keine drei Schritte getan, wenn es um etwas so Unwichtiges wie Selbsterkenntnis gegangen wäre und nicht um seinen Bruder. Kwame weiß, wer er ist. Wir sind nur wegen Robert hier, Robert, der alle zwei Minuten in der Menge zu verschwinden droht, auf der Suche nach einer Ecke, an der mehr Action ist.
    Ich drehe mich um und blicke über die spiegelnde Wasserfläche hinweg zu den Stufen des Denkmals. Die Frau, die auf diesen Stufen gesungen hatte, weil sie nicht im Saal singen durfte, ist gestorben, im April zwei Jahre zuvor, gerade als Kwame aus dem Gefängnis kam. Eine Altistin hat mit ein paar Schnipseln Schubert und Donizetti das Leben meiner Neffen verändert. Nein, das ist nicht richtig. Nicht verändert. Sie hat es geschaffen.
    Kwame folgt meinem Blick die Mall hinunter. Aber das Gespenst kann er nicht sehen. Beim Anblick des Lincolndenkmals verzieht mein Neffe die Miene. »Verfluchter Niggerhasser. Weiß gar nicht, warum wir den immer noch verehren. Sklavenbefreier! Dass ich nicht lache.«
    »Du kommst schon noch drauf«, sage ich. Kwame starrt mich nur fassungslos an, als sei ich jetzt endgültig übergeschnappt. Ich packe ihn an der Schulter und schüttle ihn. »Du hast die Wahl zwischen einem alten Niggerhasser und einem antisemitischen Rattenfänger. Zwischen einem Stück Marmor und einem Stück Dreck. Keine leichte Entscheidung, was, Bruder?«
    Die Brüder zu unserer Rechten sehen uns vorwurfsvoll an. Die vor uns drehen sich um und lächeln.
    Dann tut sich etwas auf der Rednertribüne, und die Kundgebung beginnt. Gleich werden Kwame und Robert nach vorne gehen wollen, nur ein kleines Stückchen, aber ohne
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