Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
Musik.
    »Na?«, begrüßt Ruth uns, gespannt, was wir zu erzählen haben. »Wie war es? Seid ihr beeindruckt?«
    Alle drei schweigen wir, jeder von uns Jungen aus seinem eigenen Grund.
    »Jetzt kommt schon. Erzählt. Was haben die Redner gesagt? War es so, wie ihr es euch ...?«
    »Ruth«, flehe ich.
    Ihr Ältester legt das Kinn auf den Scheitel seiner Mutter und weint.
    Erst auf dem langen Flug zurück über den Kontinent kommt Ode mit seiner Frage. Und auch da fragt er nicht uns, sondern seine Mutter. Es wird schon dunkel, als wir an den Flughafen kommen, und den ganzen Flug über ist es Nacht. Wir steigen durch die Wolkendecke hinauf ins Freie, und nichts ist mehr über uns als das Dunkel. Kwame, auf der anderen Gangseite, schreibt einen Song über den Protestmarsch. Er muss ihn hervorbringen. Er hat den ganzen Song im Kopf, im Gedächtnis. Er reicht mir die Kopfhörer seines Discmans. »Toller Trip. Neue Crew aus L. A. Hör dir mal den irren Bass an.«
    Ich habe es in zwei Noten heraus. »Gregorianischer Cantus firmus.« Ein Credo, das schon ein Jahrtausend alt war, als Bach es sich zu Eigen machte.
    »Echt?« Seine Augen funkeln, er überlegt, ob er mir trauen kann. »Motherfucker macht ein Scheiß-Sample.« Er nimmt die Kopfhörer zurück und klatscht sich in einem fremdartigen, ungleichmäßigen Rhythmus auf die Schenkel. Die Panik des Tages ist bloß noch Erinnerung. Wieder werden die Noten neu gemischt. »Meine Crew und ich, wir müssen endlich abheben.«
    Auch das eine ewige Wahrheit. »Meine auch«, sage ich ihm. Auch ich habe mein Stück fertig in meinem Inneren, es wartet auf das Aufgeschriebenwerden – das Stück, das schon vor so langem mich geschrieben hat. Ich spüre meine Crew in meinem Inneren, spüre, wie sie endlich abhebt. Und der erste Sprung wird natürlich, wie immer, zurück sein.
    Der kleine Robert sitzt am Fenster, seine Mutter neben ihm. Von Ohio bis Iowa zappelt er hin und her, reckt den Hals, will etwas durch die kleine quadratische Scheibe sehen. Aber es gibt nichts zu sehen außer tiefschwarzer Nacht.
    »Wonach hältst du Ausschau, Schatz?«
    Sofort sitzt er still, schämt sich, dass sie ihn erwischt hat.
    »Erzähl's mir. Hast du etwas da oben gesehen?«
    »Mama, wie hoch sind wir?«
    Sie weiß es nicht.
    »Wie weit weg sind wir vom Mars?«
    Sie hat sich noch nie Gedanken darüber gemacht.
    »Wie lange würde es dauern ...? Mama?«
    Mehr Fragen als er ihr seit seinem siebten Jahr gestellt hat. Sie sieht, wie seine alte Sandkastenliebe, die Mathematik, wieder bei ihm anklopft. Ein Signal, das in der Ferne leuchtet. Sie macht sich auf die nächste Frage gefasst, betet insgeheim, dass sie nicht bei all diesen Fragen gar nicht begreift, was sie bedeuten.
    »Mama, Wellenlänge ist doch so etwas wie Farbe, nicht?«             
    Sie ist sich beinahe sicher. Nachdenklich nickt sie. Notfalls wird sie improvisieren.
    »Aber Tonhöhe ist auch Wellenlänge, oder?«
    Sie nickt, diesmal langsamer. Aber immer noch Ja.
    »Was meinst du, auf welcher Wellenlänge sind sie – die auf den anderen Planeten?«
    Sie verzieht das Gesicht. Die Antwort müht sich ins Freie zu kommen, aus der Tiefe, in die sie sie vor so langer Zeit verbannt hat. Meine Schwester gibt Worten neues Leben, die ich schon vor Jahren vergessen hatte. Worten, die darauf warten, dass die Vergangenheit sie erreicht. Sie richtet sich kerzengerade auf, als wolle sie das Flugzeug zum Innehalten bringen, zum Wenden, damit sie mit dem Fallschirm über der Mall abspringen konnte. Keine Zeit zu verlieren. »Wo um alles in der Welt ...? Wo hast du das gehört ...?«
    Sie spürt, wie ihr Sohn sich in seinen Panzer zurückzieht, wie der Bann bricht. Ein schmerzliches Lachen, eine halb fertige Melodie. Sie sieht jemanden auf sich zukommen, von dem sie glaubte, er sei tot und begraben. Ja natürlich, die Botschaft war für ihn, für ihren Jungen. Nicht über die Farbe hinaus; in die Farbe hinein. Nicht oder; und. Und immer wieder ein neues Und dazu. Immer wieder neue Frequenzen. Wo sonst sollte denn ein solcher Junge leben ?
    Sie beugt sich über ihn und versucht es zu sagen. »Mehr Wellenlängen, als es Planeten gibt.« Ihre Stimme hat alle Farbe verloren. »Eine andere an jeder Ecke, auf die du dein Teleskop hältst.«

OF   THEE   I   SING
     
    Der Junge hat sich verlaufen, wandert ziellos in der gleichgültigen Menge hin und her, den Tränen nahe. Ein farbiger Junge, einer von ihren Leuten. Er stürmt in die eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher