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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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Richtung. Am Ende hat jeder ein paar Tropfen von allem in sich. Was soll der ganze Scheiß? Lass uns endlich anfangen und nicht immer nur drüber reden.«
    Ich schüttele den Kopf und frage ihn: »Was glaubst du eigentlich, von wem du das hast?«
    Der Prediger will alle Rekorde brechen. Und die Menge hilft ihm nach Käften. Wir recken die Arme in die Luft. Wir spenden mit vollen Händen. Wir umarmen wildfremde Menschen. Wir singen. Dann sagt uns der Konzertviolinist: »Gehet hin. Kehret nach Hause zurück und tuet Buße ... Kehret nach Hause zurück als neue Menschen.« Am Schluss sind wir da, wo solche grandiosen Erweckungsbewegungen bisher noch immer angekommen sind und auch immer ankommen werden. Zu Hause: An dem einzigen Ort, der uns Zuflucht bietet, wenn es keinen anderen Ort mehr für uns gibt.
    Aber unser Mann hat höhere, ehrgeizigere Ziele. Die Reden enden und die Versammlung löst sich in allgemeinen Umarmungen auf. Kwame drückt mich an sich, ein linkisches Versprechen. Verlegen lassen wir einander los und sehen uns nach Robert um. Aber der ist verschwunden. Wir sehen den Jungen, mit dem er zusammen war, doch der hat keine Ahnung, was aus Robert geworden ist. Kwame schüttelt ihn, schreit ihn fast an, und das verängstigte Kind fängt an zu weinen.
    Mein Neffe taucht ein in seinen schlimmsten, ewigen Albtraum. Ein Albtraum, der auch der meine ist. Es ist alles seine Schuld. Er hat den Kleinen hierher gebracht, weil er ihn schützen wollte, ein Gegenmittel gegen den eigenen Einfluss. Er hat Ruths Warnungen samt und sonders in den Wind geschlagen. Hat ihr tausendmal versprochen: »Es kann nichts passieren.« Die ganze Zeit über hatte er den Jungen fest im Griff, in dieser riesigen Menge. Und jetzt, im ersten unachtsamen Augenblick, haben wir das Kind verloren, als habe es nur auf die erstbeste Gelegenheit zur Flucht gewartet.
    Kwame ist außer sich. Er läuft hektisch hin und her, in alle Richtungen gleichzeitig, wo immer er eine Kindergestalt sieht, stößt rücksichtslos alle beiseite. Anfangs versuche ich noch mit ihm Schritt zu halten. Aber dann bleibe ich stehen und werde mit einem Mal ganz ruhig, so ruhig, dass ich fast schon glaube, es sei der Tod. Ich weiß, wo Robert ist. Ich könnte es Kwame sagen. Ich sehe das ganze Stück, den ganzen Liederzyklus vor mir und höre die Noten, die meine Augen lesen. Das Stück, an dem ich schreibe, das Stück, das mich schreibt und das schon vor meiner Geburt begonnen hat. Die Hymne für das Land in meinem Inneren, die endlich geboren werden will.
    Ich will es meinem Neffen sagen, aber ich bringe es nicht heraus.
    »Keine Panik«, sage ich. »Lass uns hier bleiben. Er ist ganz in der Nähe.« Ich weiß sogar ganz genau, wie nah der verlorene Junge ist. So nah wie ein Versprechen an einen längst vergessenen Freund. So nah wie die Spur der Melodie, die endlich in mir aufkeimt und mich drängt, sie zu komponieren.
    »Halt die Schnauze, Mann«, brüllt Kwame. »Ich muss nachdenken.« Mein Neffe kann sich nicht einmal selbst hören. Sein verzweifelter Verstand spielt alle denkbaren Möglichkeiten durch. Er stellt sich vor, was alles passiert sein könnte, fest überzeugt, dass jemandem wie uns immer nur das Schlimmste zustoßen kann. Er hat seinen Bruder inmitten von einer Million Männern verloren, die in alle Richtungen auseinander gehen. Das ist die endgültige Strafe für all seine Taten und Versäumnisse.
    Und dann kehrt sein Bruder aus der Unterwelt zurück, direkt vor unseren Augen. Er kommt die Stufen des Lincolndenkmals hinunter und läuft auf uns zu. Er winkt fröhlich, als kehre er von einem Ausflug zurück, nach kaum mehr als fünf Minuten. Tatsächlich kann es kaum länger gedauert haben. Aber für Kwame war es eine neuerliche Gefängnisstrafe. Lebenslänglich.
    Aus Erleichterung wird Zorn. »Wo zum Teufel hast du gesteckt, Klugscheißer? Was hast du dir dabei gedacht?« Gepeinigt, vaterlos. Jeder Vergangenheit hilflos ausgeliefert. Wenn ich nicht dabei wäre, würde er den Jungen schlagen.
    Der Ausdruck überraschten Staunens verschwindet aus Roberts Gesicht. Er starrt den Ort an, zu dem er zurückgekehrt ist. Er zuckte mit den Schultern und verschränkt die Arme schützend vor der Brust. »Nirgends. Ich hab mich nur unterhalten. Mit Leuten.« Die Frage, die ihm auf der Zunge lag, bleibt unausgesprochen. Auch Kwame, gesenkten Hauptes nun, hört, dass all die Versprechen, die er gerade gemacht hat, ihn im Grunde nur verspotten, dass sie verhallen wie
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