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Das Hiroshima-Tor

Titel: Das Hiroshima-Tor
Autoren: dtv
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|5| ERSTER TEIL
    |7| 1
    Als Tanja den blonden Mann unter den Menschen in der Rue Marie erkannte, hörte sie hinter sich das grelle Knattern einer Vespa.
     Dennoch behielt sie den Skandinavier fest im Auge und versuchte Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Nervös hielt sie den Riemen
     ihrer Handtasche umklammert.
    Die Vespa kam näher, eines von vielen Fahrzeugen an diesem Dienstagabend. Tanja schenkte ihr keine sonderliche Beachtung,
     wechselte aber instinktiv vom Straßenrand weiter in die Mitte des Gehwegs. Trotz der Anspannung durch diese ewige Warterei
     genoss sie die Atmosphäre von Paris, die sie zum ersten Mal vor Jahren zusammen mit ihrem Freund als Rucksacktouristin erlebt
     hatte.
    Auch der Mann hatte sie erkannt, er kam ihr entgegen und nickte ihr mit ernstem, nervösem Gesichtsausdruck zu. Mit seiner
     Körpergröße, dem blonden Haar und der hellen Haut fiel er unter den Parisern auf. Er trug einen Trenchcoat und in der Hand
     eine Aktentasche. Tanja musste lächeln, und dieses Lächeln sollte dem etwas ungelenk wirkenden Mann Mut machen.
    Plötzlich spürte sie einen heftigen Ruck an ihrer Handtasche. Sie schrie auf, aber vergebens. Die braune Ledertasche befand
     sich schon in der Hand des jungen Mannes mit dem Schal vorm Gesicht, der auf seiner Vespa im Slalom zwischen Verkehrsschildern
     hindurch zurück auf die Straße und in Richtung Seine-Brücke raste.
    Tanja sah nur kurz die bestürzte Miene des Skandinaviers, der hilflos auf dem Gehweg stehen blieb, bevor sie dem Dieb hinterherrannte.
    |8| Im Laufen merkte Tanja, dass noch jemand die Vespa verfolgte, ein breitschultriger Mann mit Baseballmütze. Er lief auf der
     anderen Straßenseite und sprach dabei hektisch in sein Handy.
    Tanja wurde immer schneller. Die Passanten sahen der dreißigjährigen Frau mit den roten Haaren erstaunt nach. Sie schien um
     ihr Leben zu rennen. Auf dem Pont Marie musste die Vespa wegen eines Staus abbremsen. Die Reihe der roten Bremslichter reichte
     bis auf die andere Seite der Brücke. Da die Autos nicht in der Spur blieben, konnte sich die Vespa nicht zwischen ihnen hindurchschlängeln.
    Tanja sah schon, dass sie den Dieb einholen würde, Schritt für Schritt kam sie ihm näher, aber sie beobachtete auch, dass
     der Mann mit der Baseballmütze jemandem winkte, der vom gegenüberliegenden Ende der Brücke auf die Vespa zukam.
    Nun schien auch der Taschendieb auf seine Verfolger aufmerksam geworden zu sein. Da er im Stau nicht weiterkam, blickte er
     sich panisch um – und plötzlich flog die Tasche in den Fluss.
    Tanjas entsetzter Blick folgte der Tasche, die zwanzig Meter weiter unten ins Wasser fiel. Sofort blieb sie stehen, umfasste
     das steinerne Brückengeländer, den Blick auf die Tasche geheftet, die Zentimeter für Zentimeter tiefer im Fluss versank.
    Ohne zu zögern, schwang sich Tanja auf das Geländer. Ein Passant stieß erschrocken einen Schrei aus, als sie sich abstieß
     und mit wehendem Mantel der dunklen Wasseroberfläche entgegenstürzte.
    Fast gleichzeitig sprang auf der anderen Seite der Mann mit der Baseballmütze in den Fluss. Die Handtasche war nicht mehr
     zu sehen. Tanja und der Mann tauchten ihr nach und verschwanden aus dem Blick der Zuschauer.
    Mit roten Flecken im kreidebleichen Gesicht starrte der Skandinavier auf den Fluss.
    »Qu’est-ce que c’est passé?«,
fragte neben ihm ein Passant mit Gehstock.
    |9| »Da sind zwei Leute in den Fluss gefallen   ...«, sagte eine Studentin.
    »Hat schon jemand den Krankenwagen gerufen?«, fragte der Blonde atemlos auf Englisch. »Oder die Feuerwehr?«
    »Sind unterwegs«, antwortete ein junger Mann, der mit seinem Handy am Brückengeländer stand. Er richtete die Kameralinse auf
     den Fluss. Die zerbeulte Cola-Dose, die langsam in der Strömung trieb, hatte Gesellschaft von einer Baseballmütze bekommen.
    Plötzlich tauchte der Kopf des Mannes in der Seine wieder auf. Mit kräftigen Zügen kraulte er auf das gemauerte Ufer zu. Sein
     Kollege hatte inzwischen die Brücke verlassen und wartete auf ihn. Dabei sprach er pausenlos in sein Handy und blickte immer
     wieder zu den Schaulustigen auf der Brücke hinauf, von denen einige ihren Weg schon wieder fortsetzten.
    Er half seinem Kollegen aus dem Wasser, während die Sirene eines Rettungswagens den Verkehrslärm übertönte. Die Bewegungen
     des Mannes wurden schneller. Sein Partner hastete tropfnass und außer Atem hinter ihm die Treppe zur Straße hinauf.
    Der Krankenwagen schaltete die
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