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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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noch still, als er sich schon wieder löste. Mich umarmte er nicht; wir hatten uns ja erst vor drei Jahren gesehen. Stattdessen drückte er mir noch einen Artikel in die Hand, den er aus der New York Times vom Vortag ausgeschnitten hatte. 24. April: »Neue Aufschlüsse der Wissenschaft über die Ursprünge der Zeit.«
    »Das musst du lesen, Joey. Eine Botschaft von Pa, von jenseits des Grabes.«
    Jonah fuhr davon. Ruth winkte sogar ein wenig, als er schon zu weit fort war, um es zu sehen. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, über seine Vorschläge zu sprechen. Wir mochten die Zukunft unseres Bruders sein. Aber er war nicht die unsere.
     
    Er rief nicht mehr an, vor der Weiterreise nach L. A. Dazu war der Zeitplan doch zu eng. Ihr Auftritt beim Berkeley-Festival war ein Triumph, nach allem, was man hörte. Am vorletzten Apriltag flogen er und Voces Antiquae nach Los Angeles. Ihre Maschine war eine der letzten, die dort landeten, bevor der Flughafen für ankommende Flüge gesperrt wurde.
    Ruth rief früher an, am Mittwochabend. Sie sprach so leise, ich dachte zuerst, das Telefon sei gestört. »Joey, Joey«, sagte sie nur immer wieder. Ich rechnete damit, dass einer ihrer Jungen tot war. »Sie haben sie alle laufen lassen. Alle vier. Unschuldig in allen Punkten der Anklage. Sechs-undfünfzig Schläge, auf Video festgehalten; die ganze Welt hat es gesehen, und sie tun, als sei nichts gewesen. Das ist doch nicht möglich. Nicht einmal in Amerika.«
    Jonahs Ausschnitt aus der Times war der erste Zeitungsartikel gewesen, den ich seit Monaten gelesen hatte. Ich kümmerte mich nicht mehr um das Zeitgeschehen. Nachrichten waren für mich nichts weiter als ein grausamer Hohn. Nichts weiter als die Illusion, dass nach wie vor Dinge in der Welt geschahen. Ich hatte damit abgeschlossen. Meine Neuigkeiten kamen aus der New Day School. Ich hatte ganz vergessen gehabt, dass der Urteilsspruch im Rodney-King-Prozess erwartet wurde. Ruth berichtete mir von dem Freispruch, aber ich hatte diesen Frei-spruch schon vor Ewigkeiten gehört, jedes einzelne Wort.
    Jetzt zogen die Nachrichten mich wieder in ihren Bann. Ich schaltete den Fernseher ein, noch während ich mit Ruth telefonierte. Ein Bild aus einem Aufklärungshubschrauber zeigte einen Mann. Zuerst dachte ich, es sei King, aber es war ein anderer Mann, von der anderen Farbe. Live für die Kameras wurde er aus dem Führerhaus seines Lastwagens gezerrt und gesteinigt. »Siehst du das?«, fragte ich sie. Etwas in mir wollte, dass es ihr wehtat. Wollte, dass sie in all diesen Dingen genauso wenig Sicherheit kannte wie ich. »Siehst du, wohin es uns bringt, wenn wir Stellung beziehen wollen?«
    »Das hört nie auf«, sagte meine Schwester immer wieder. Und da hatte sie Recht.
    Den ganzen Donnerstag über lief im Lehrerzimmer von New Day der Fernseher. Unterricht wurde nur pro forma gehalten. Alle kamen immer wieder zurück und wollten sehen, was geschah. Wir waren nicht einmal entsetzt. Nur benommen, Gefangene an einem Ort, der uns immer wieder einholen würde. Ein Flammenschein stand über der Skyline der sterbenden Stadt, und die Feuerwehr wurde der vielen Brände nicht mehr Herr. Die Polizei zog sich zurück und überließ die Straße den Plün-derern jeglicher Couleur. Die Nationalgarde hatte ihre Brückenköpfe gebildet, griff aber noch nicht ein, weil der Nachschub an Munition ausblieb. Läden gingen in Flammen auf, alles brannte wie Zunder. Die Zahl der Opfer stieg. Eine Lehrerin der dritten Klasse nahm ein Fernsehgerät mit in den Unterricht, dachte, die Kinder könnten etwas daraus lernen. Nach fünf Minuten stellte sie es wieder ab, weil sie schon mehr als genug gelernt hatten. Überall tobte der Aufstand, und als die Nacht sich über den zweiten Tag senkte, breitete die Hölle sich so rasend aus, dass man fast meinen konnte, es stecke ein höherer Wille dahinter.
    Ruth wollte nicht allein nach Hause gehen. Sie verlangte, dass ich zum Abendessen mitkam. Und während wir aßen, verbrannte auch die letzte Hoffnung. »Was machen sie da?«, wollte mein Neffe wissen. »Was geschieht da? Ist das Krieg?« Meine Schwester starrte nur auf den Fernsehschirm, biss sich auf die Lippen. Nie zuvor hatte ich erlebt, dass sie eine Frage von Robert unbeantwortet ließ.
    »Wo steckt dein Bruder?«, fragte sie. »Warum zum Teufel ruft er uns nicht an?« Ich sagte ihr nicht, dass er auf dem Bürgersteig in South Central lag und in den Himmel starrte, dass er sang, was dort geschrieben stand. Auch
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