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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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Gong. Aber meine Kinder machten begeistert mit, ich dirigierte weiter, und nach und nach stimmten alle wieder ein. Verstohlen sah ich zu Jonah hinüber. Er gab mir mit einer gehobenen Augenbraue ein Zeichen wie in alten Zeiten, und auf ging's.
    Ganz egal welche Purzelbäume ich mit meinem Chor auch schlug, irgendwie kam er immer mit. Diesmal musste er meine Gedanken lesen. Mich begleiten. Ein paar Takte Irrlicht, Dichterliebe, Kindertotenlieder, Dies Irae, ein altes, gebrochenes Kyrie eleison: Alles fügte er ein in unseren Gesang, verwandelte ihn durch jede neue Harmonie, die sie ihm zuwarfen. Er ließ sich auf sie ein. Er sang mit der hohen, klaren, messerscharfen Präzision, deren Vervollkommnung er sein ganzes Leben gewidmet hatte. Auch die Kinder spürten die Kraft. Immer dieselben acht Worte, bei Bedarf ausgefüllt mit Scatgesang, als habe er das schon immer gekonnt.
    Wir kreisten in einem riesigen Wirbel, drifteten von einer Tonart zur anderen. Seine Stimme, inmitten der Kinderstimmen, war eine Leuchte in der Finsternis. Wir hätten für immer in der Luft bleiben können, wäre da nicht ein kleines Missgeschick gewesen. Als er ins Klassenzimmer geschlüpft war, hatte Jonah die Tür offen gelassen. Und so schwappte jede Runde von »I'm still standing« den Gang hinunter – a little bit louder now, a little bit softer now –, und jeder, der Ohren hatte, konnte hören. Ich merkte gar nicht, dass wir die anderen störten, bis sich ihre Stimmen in den Chor mischten.
    Ein nüchterner Sozialkundelehrer kam und wollte uns zur Ruhe mahnen, doch dann stimmte er mit ein. Die Mathematiklehrerin der ersten Klasse steckte mit ihrem Händeklatschen alle an. Kinder aus den umliegenden Räumen drängten hinzu, bis selbst Stehplätze nicht mehr zu haben waren. Und kein einziger, der nur Zuschauer war – alle machten mit. Je größer der Chor wurde, desto mehr Leute zog er an. Doch dann öffnete sich eine Bresche in unserer Klangmauer – nichts, wozu ich ein Zeichen gegeben hatte. Doch schon beim nächsten Auftakt wusste ich, dass es nur eines sein konnte. Ich sah sie in der Tür stehen, noch bevor ich mich umdrehte: die Leiterin dieser Schule.
    Ich wusste nicht, wie viel Ruth mit angehört hatte. An ihrem Gesicht hätte man es nicht ablesen können. Aber hier sangen ihre Kinder, zum letzten Mal klein, und da stand ihr Bruder und sang für sie, zum ersten Mal seit wir klein gewesen waren. Jeder einzelne Ton blieb er selbst in dem sich verändernden Akkord. Und dann kam noch ein neues Obbli-gato hinzu. Wo die Melodielinie herkam, konnte ich nicht sagen. Sie hatte sie sich einfallen lassen. Improvisiert. Der Text aber stand schon lange fest:
     
    Doch wo bauen sie ihr Nest?
     
    Ruths Stimme war wie ein Dolchstoß. Verweigerung, Klage: Die einzige Antwort auf seine trotzige Hoffnung. Mir war wieder zumute wie in Philadelphia, als ich sie dort singen gehört hatte. Ein Gefühl, dass unendlich viel verloren gegangen war. Selbst jetzt, ein Schatten ihrer selbst, war ihre Stimme so lieblich, und doch war sie der Beweis, dass der Traum der Musik nie mehr sein konnte als ein Traum.
    Eine nach der anderen ließ ich die Melodien in den Hafen einlaufen. Die kreisenden Rhythmen kamen zur Ruhe, der Pulsschlag verebbte, und tosender Beifall brach los, ein Applaus aller für alle. Kinder stürmten in alle Richtungen, ein spontaner Aufstand, der die Unterrichtsstunde für beendet erklärte. Ein Grüppchen umringte Jonah. »Wie haben Sie das gemacht?«, wollte Judson wissen. Zur Antwort sang Jonah ihm Monteverdi.
    Beklommen stand meine Familie mitten in diesem Freudentaumel. Robert drückte sich an die Seite seiner Mutter, schuldbewusst, ertappt. Sie hielt sich in meiner Nähe, als könnte ausgerechnet ich ihr Sicherheit bieten. »Robert«, erklärte Ruth dem Jungen, mit der gleichen Mischung aus Furcht und Mattigkeit, mit der sie den Fisch und den Vogel heimatlos davongeschickt hatte, »das ist dein Onkel.«
    »Weiß ich doch«, sagte der Junge ärgerlich. Er war so aufgeregt, er konnte keinem der Erwachsenen ins Auge blicken. Er zeigte auf mich. »Dein Bruder.«
    Dann stand Jonah neben uns. »Habt ihr das gehört? Habt ihr das gehört?« Er wollte seine Schwester umarmen. Ruth trat einen Schritt zurück. »Nicht! Du kannst nicht einfach ... Nach so langer Zeit ...« Die Stimme versagte ihr. Aber die Tränen kämpfte sie nieder.
    Robert ballte die Fäuste, bereit sie zu verteidigen. Jonah berührte Ruth flüchtig am Arm, eine Begrüßung,
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