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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit
Autoren: Richard Powers
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seine Mutter an. Ruth presste sich die Hand auf die bebende Lippe. Robert sah mich an, das letzte Bollwerk der Vernunft. Ich machte eine Handbewegung in Richtung Klassenzimmer. »Ich muss hier noch aufräumen.«
    Ruth befreite sich aus ihrem eigenen Würgegriff. »Und ich muss mich wieder um die Schule kümmern. Und du, junger Mann? Solltest du nicht eigentlich ganz woanders sein? Hmm? Bei Mrs. Williams im Mathe-matikunterricht ?«
    »Weißt du, was du noch brauchst?« Ich hörte es in Jonahs Stimme. Die Sehnsucht geliebt zu werden. »Einen afrikanischen Namen. Wie dein Bruder.«
    Beide blieben stehen, Mutter und Sohn. »Was weißt du denn über afrikanische Namen?« Woher weißt du etwas über seinen Bruder?
    »Also hör mal. Wir sind ein paar Mal in Afrika gewesen. Auf Tournee. Senegal, Nigeria, Zaire. Die Leute da lieben uns. Wir haben mehr Verehrer in Lagos als in Atlanta.« Er fasste seinen Neffen bei den Schultern. »Ich werde dich Ode nennen. Guter Bini-Name. Das heißt so viel wie ›am Wege geborene«
    Das Kind blickte fragend seine Mutter an. Ruth hob die Hände. »Wenn der Mann das sagt.«
    »Was bedeutet Kwame?«
    »Keine Ahnung. Ode ist der einzige afrikanische Name, den ich kenne. So haben sie mich genannt, das letzte Mal als ich dort war.«
    »Ode?«, fragte Robert, immer noch ungläubig.
    »Roger«, sagte sein Onkel.
    »Ode«, sagte Robert und wies mit dem Finger auf mich. Verstanden?
    Ich hob die Hände. »Soll mir recht sein. Von jetzt an also Ode. Bis du mir was anderes sagst.«
    Er stürmte zu seiner letzten Unterrichtsstunde davon, viel zu spät.
    Die Erwachsenen, allein zurückgelassen, verstummten. Ruth und Jonah tauschten Gefangene, mühten sich beide verzweifelt, den Sprung über zwanzig Jahre zu schaffen. Wir begleiteten ihn hinaus auf den Parkplatz, und zum Abschied kam er noch einmal auf seine Idee zurück.
    »Jetzt kommt schon. Die Vogel–und–Fisch–Combo. Was spricht denn dagegen? Eine ganz neue Spezies. Alter Wein in neuen Schläuchen. Singet dem Herrn ein neues Lied. Überlegt mal, was für ein Spaß das für die Kinder wäre. Ihr seid doch Pädagogen. Das Beste, was ihr für eure Schule tun könnt.«
    »Wie soll das denn für die Schule gut sein?« Selbst in ihrem Misstrauen war Ruth noch ganz Direktorin. Ich betrachtete sie durch Jonahs weit aufgerissene Augen.
    Aber der Graben, der sie trennte, war zu tief, die Verwirrung zu groß. »Kommt doch. Die Klassiker gehen auf die Straße. Macht euer Baby hipper und smarter. Der Markt ist da. Das Land wartet auf so etwas.«
    Sie ließ den Blick sinken, schüttelte den Kopf, konnte nicht glauben, wie fern sie einander waren. Sie musste lachen. »›Das Land wartet.‹ Du meinst das wirklich ernst, oder?« Sie blickte zum Himmel. »Liebe Güte. Wo soll ich bloß anfangen?«
    Er lächelte zurück, ein letzter verzweifelter Versuch. »Du fängst damit an, dass du unter den Kindern die besten raussuchst, und ich besorge uns einen Agenten.«
    »Wo hast du die letzten Jahre gelebt, Mann? Hast du keine Augen im Kopf?«
    »Die Augen sind nur durchschnittlich. Aber meine Ohren sind ausgezeichnet.«
    »Dann höre eben hin. Hör doch ein einziges Mal zu.«
    »Habe ich. Was ihr hier macht, ist gut, Ruth. Besser als das eine, besser als das andere. Besser als Stellung beziehen. Robuste Kreuzung.«
    Er war für sie ein so hoffnungsloser Fall, sie wusste sich keinen Rat. Aber er wollte eine formelle Kapitulation. Für ihn war es keine Frage. Vom ersten Ton an war ihm klar gewesen, dass er für diesen Chor sein Leben lang geübt hatte. Und doch waren es ja gerade diese Mühen eines ganzen Lebens – seine unbeugsame Willenskraft, seine kompromisslose Selbstbefreiung, sein Streben zu immer neuen, unsichtbaren Zielen, die Art, wie er sich fernab von jedem Klischee Note um Note selbst vervollkommnet hatte –, was verhindern würde, dass dieser vielstimmige Chor jemals der seine würde.
    Als er wieder sprach, war er wie ein Kind, verängstigt und schutzlos.
    »Denkt mal drüber nach. Hat ja keine Eile. Ich lasse mir was einfallen. Ich rufe noch mal an, bevor wir nach L. A. weiterfliegen.«
    Ruth hätte ihn mit dem kleinsten Kaliber erschießen können, mit dem winzigen Wörtchen Nein. Aber sie tat es nicht. Jonah stand vor ihr. »Zwanzig Jahre. Weswegen?« Sie biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf – nicht über die Frage, sondern über ihn. Er nickte. »Diesmal wird es nicht so lang.« Sie ließ es geschehen, dass er sie umarmte, hielt sogar
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