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Der Kinderpapst

Der Kinderpapst

Titel: Der Kinderpapst
Autoren: Peter Prange
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warmen
Sonnenstrahlen, noch einmal atmete er die milde Luft ein, wie unzählige Male in
seinem Leben, ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden.
    Spring, Teofilo, spring …
    Er schaute hinab in den Abgrund. Von der schwindelnden Tiefe ging
ein Sog aus, ein Ziehen im Bauch, im Unterleib, in seinen Lenden, dem er nicht
widerstehen konnte.
    Spring, Teofilo, spring …
    Â»Nein! Tu’s nicht!«
    Wie aus einer anderen Welt drang die Stimme an sein Ohr.
    Â»Teofilo, nein!«
    Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und er drehte sich um.
    Ãœber die Lichtung kam eine Frau gelaufen, direkt auf ihn zu.
    Â»Du?«, fragte er ungläubig, als sie vor ihm stand.
    Noch außer Atem nickte sie nur mit dem Kopf.
    Â»Chiara …«
    Er sah ihre himmelblauen Augen, ihre helle Haut, die blassrosa
Lippen. Und doch konnte er nicht glauben, was er mit eigenen Augen sah, konnte
nicht glauben, dass sie wahrhaftig vor ihm stand.
    Â»Bist du es wirklich?«, fragte er, als müsse er sich erst vergewissern,
um seinen Sinnen trauen zu können.
    Â»Ja, Teofilo.«
    Â»Aber … aber woher kommst du?«
    Â»Ich habe dich gesucht.«
    Â»Du – mich gesucht?«
    Â»Psssst«, machte sie.
    Â»Aber wie hast du gewusst, dass ich … dass ich hier …?«
    Â»Kannst du dir das nicht denken? Das ist doch unser Versteck.« Sie machte
einen Schritt auf ihn zu. »Mein Gott, was bin ich froh, dass ich dich gefunden
habe. Ich hatte solche Angst um dich.«
    Immer noch voller Zweifel, hob er den Arm, um sie zu berühren. Doch
er traute sich nicht. Aus Angst, dass sie nur eine Erscheinung war, die sich
bei seiner Berührung in Nichts auflöste.
    Â»Ich … ich dachte, ich würde dich nie mehr wieder sehen«, sagte er.
»Weil ich …« Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihr Haar unter dem verrutschten
Kopftuch kahl geschoren war. »Bist du … bist du Nonne geworden?«
    Â»Psssst«, machte sie wieder und legte ihm einen Finger auf die
Lippen. »Ja, ich wollte ins Kloster. Aber jetzt bin ich hier. Bei dir.« Sie
machte eine Pause und schaute ihn an. »Weil ich dich liebe.«
    Tränen schossen ihm in die Augen.
    Â»Du … du liebst mich?«, flüsterte er.
    Â»Ja, Teofilo. Ich habe dich immer geliebt und niemals damit
aufgehört.«
    Ihre Worte machten ihn stumm. War es möglich, dass ein solches
Wunder geschah? Immer noch spürte er ihre Berührung, und noch immer war sie da,
stand sie vor ihm, ohne sich aufzulösen.
    Nein, es gab keinen Zweifel, das Wunder war geschehen.
    Ein Schmetterling tanzte in der Luft.
    Â»Erinnerst du dich …?«, flüsterte sie.
    Â»Wie könnte ich das vergessen?«
    Sie lächelte ihn an. »Worauf wartest du dann? Oder magst du mich nicht
mehr küssen?«
    Als er ihr Lächeln sah, legte sich endlich seine Angst. Wieder hob
er den Arm, und diesmal berührte er sie, ganz zart und behutsam.
    Â»Mein Engel, wie kannst du nur fragen?«
    Die Augen in ihren Blick versenkt, nahm er ihr Gesicht zwischen die
Hände, und als sein Mund mit ihren Lippen verschmolz, hatte er nur noch den
einen Wunsch: dass dieser Augenblick niemals aufhören würde.



 
    1
    Â»Deus caritas est …«
    Ich setzte meine Brille ab und rieb mir die Augen. Ohne dass ich es
gemerkt hatte, war über den Dächern Roms bereits die Sonne aufgegangen, und auf
der Fensterbank meines kleinen Appartements in der Via della Conciliazione
lärmten die Spatzen. In einem Zustand übermüdeter Wachheit schloss ich den
letzten Aktendeckel des Konvoluts, das die päpstliche Kongregation für Selig-
und Heiligsprechungen mir zur Prüfung anvertraut hatte, löschte die
Schreibtischlampe und stand auf, um mir aus der Küche einen Kaffee zu holen.
Die ganze Nacht hindurch hatte ich gelesen, Hunderte uralter, verstaubter
Dokumente, die seit tausend Jahren keine Hand mehr berührt hatte. Doch mit dem
Vers aus dem ersten Johannesbrief waren die Quellen versiegt.
    Â»Lasst uns einander lieb haben«, zitierte ich in Gedanken die
Fortsetzung der mir wohlvertrauten Textstelle. »Denn die Liebe ist von Gott,
und wer liebt, der ist von Gott geboren.«
    Professor Ratzinger, ein scharfsinniger deutscher Theologe, den
jeder Kollege achtete, aber kaum einer mochte, wurde in seinen Aufsätzen nicht
müde, den Johannesbrief anzuführen, um daraus die Unterscheidung zwischen
begehrender
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