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Der Kinderpapst

Der Kinderpapst

Titel: Der Kinderpapst
Autoren: Peter Prange
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und schenkender Liebe abzuleiten. Die Zergliederung des Begriffs
hatte mich früher stets fasziniert. Doch nach der Lektüre dieser Nacht war ich
mir nicht mehr sicher, ob eine solche Unterscheidung wirklich Sinn machte. War
das Schicksal Teofilo di Tusculos und Chiara di Sassos nicht der Beweis, dass
die Liebe immer beides ist – Begehren und Schenken zugleich?
    Ich hatte keine Zeit, der Frage nachzusinnen. In wenigen Stunden
würden die Mitglieder der Kongregation sich wieder versammeln und sie
erwarteten von mir als Prokurator des Heiligen Stuhls Antwort auf die Frage, ob
ein apostolischer Prozess zur Seligsprechung von Papst Benedikt IX . eröffnet werden sollte.
    In der Küche ließ ich einen Espresso aus der Maschine und kehrte mit
der dampfenden Tasse zurück in mein Arbeitszimmer. Der Postulator des
Verfahrens, Kardinal Jiao Xing, hatte von einem Wunder im Leben dieses
rätselhaften Papstes gesprochen, vielleicht dem größten Wunder überhaupt, um
seinen Antrag zu begründen. Eine Bilokation oder Spontanheilung, die sonst bei
Anträgen zu Selig- oder Heiligsprechungen fast immer strapaziert wurden, hatte
er dabei ausdrücklich ausgeschlossen.
    Welches Wunder aber hatte er dann gemeint?
    Erneut blätterte ich in den Unterlagen. Das einzige »Wunder«, von
dem die Dokumente sprachen, war jenes merkwürdige Phänomen bergauf rollender
Bälle und Räder, auf einer Straße in der Nähe von Giovanni Grazianos Einsiedelei.
Das Phänomen war mir bekannt, die Straße gab es wirklich, jeder Römer kannte
sie – sie führte auf eine Anhöhe unweit des Nemi-Sees. Touristen fuhren täglich
dorthin, um darüber zu staunen, wie ihre Autos im Leerlauf den Hügel
hinaufrollten, oder auch die leeren Plastikflaschen, die zu beiden Seiten der
Straße die Böschung verschandelten. Obwohl keiner der vielen Wissenschaftler,
die den Fall untersucht hatten, bislang eine Erklärung für dieses Phänomen
gefunden hatte, glaubte ich nicht, dass Kardinal Xing dies mit dem Wunder
gemeint hatte.
    Ich nahm meine Tasse und trat ans Fenster. Während ich einen Schluck
von dem heißen Espresso trank, blickte ich hinaus auf die im Morgenlicht
erwachende Stadt: das ewige Wuseln und Brodeln Roms, das Lärmen und Lachen,
dies scheinbar chaotische, doch auf geheimnisvolle Weise geordnete Labyrinth,
dies täglich sich erneuernde Wunderwerk des Lebens … Auf der gegenüberliegenden
Straßenseite, unberührt vom Verkehr der Autos und den zur Arbeit eilenden
Passanten, lief ein junger Mann mit strahlendem Gesicht auf seine Freundin zu,
um sie mit einem Kuss zu begrüßen.
    Konnte ein Tag schöner beginnen als mit dem Kuss eines geliebten
Menschen? Ich musste an Petrus da Silva Candida denken, Benedikts Kanzler – die
Einsamkeit, die er in seiner letzten Stunde verspürt hatte. Ein wenig fühlte
ich mich ihm verwandt.
    Ich stellte meinen Kaffee ab, um ins Bad zu gehen. Ich wollte mich
frischmachen, der Tag würde anstrengend werden, und ich hatte nicht geschlafen.
Doch ich war noch nicht im Bad, da wusste ich plötzlich, welches Wunder
Kardinal Xing meinte. »Lasst uns einander lieb haben. Denn die Liebe ist von
Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren.« Natürlich, das junge Paar auf
der anderen Straßenseite hatte mir die Augen geöffnet … Jahre und Jahrzehnte
hatte Teofilo di Tusculo mit Gott gehadert, sich von seinem himmlischen Vater
verraten gefühlt, ihn angefleht und provoziert, damit der Schöpfer aus dem
Dunkel seines Schweigens trat und sich zu erkennen gab. Doch was Teofilo in all
dieser Zeit nicht wahrgenommen hatte, so wenig wie ich bei der Lektüre, es erst
im Augenblick seiner größten Verzweiflung begriff, als er sich anschickte, sein
Leben zu beenden – das war die Lösung seines Lebensrätsels. Von frühester
Kindheit an war Gott bei ihm gewesen, in Gestalt der Liebe, in Gestalt Chiara
di Sassos, der Frau, nach der sich seine Seele verzehrte wie der Verdurstende
in der Wüste … Deus caritas est – das einzige
wirkliche Wunder, auf das ich in all den Jahren meiner Tätigkeit für die
Kongregation gestoßen war.
    Ich trank den Rest meines Kaffees aus und setzte mich wieder an den
Schreibtisch. Wenn die Liebe das Wunder in Benedikts Leben war, dann harrte
noch eine zweite, alles entscheidende Frage der Antwort: Hatte die Liebe
zwischen Teofilo di Tusculo und Chiara
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