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Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens
Autoren: Patricia Cornwell
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hinauf, läutete und wartete im Nebel.
    Es war kühl an diesem Dienstagmorgen, die Bäume begannen herbstlich auszusehen. Mein Schlafmangel machte sich bemerkbar. Meine Augen brannten, ich hatte ein dumpfes Gefühl im Kopf und war noch aufgewühlt von dem, was Marino gesagt hatte, bevor ich fast mitten im Gespräch aufgelegt hätte.
    »Hallo.« Gut gelaunt machte mir der Verwalter die Tür auf.
    »Wie geht's uns denn heute morgen, Dr. Scarpetta?«
    Sein Name war Jimmy Shaw. Er war sehr jung, ein Bilderbuch-Ire mit feuerrotem Haar und himmelblauen Augen.
    »Nicht besonders«, gestand ich.
    »Nun, ich war gerade beim Teekochen«, sagte er, während er die Tür hinter uns schloss. Wir gingen einen engen, schwach beleuchteten Flur entlang zu seinem Büro. »Hört sich an, als könnten Sie eine Tasse vertragen.«
    »Das wäre reizend, Jimmy«, sagte ich.
    »Die Frau Doktor ist im Moment noch vor Gericht.« Als wir seine unaufgeräumte kleine Kammer betraten, warf er einen Blick auf seine Uhr. »Sie müsste aber eigentlich gleich zurück sein.«
    Auf seinem Schreibtisch stach ein mächtiges Sektionsbuch ins Auge, schwarz und in dickes Leder gebunden. Vor meiner Ankunft hatte er in einer Steve-McQueen-Biographie gelesen und Toast gegessen. Ohne zu fragen, wie ich ihn trank, denn das wusste er inzwischen, stellte er einen Becher Tee vor mich hin.
    »Einen Marmeladentoast?« fragte er wie jeden Morgen.
    »Danke, ich habe schon im Hotel gefrühstückt«, antwortete ich wie immer, während er hinter seinem Schreibtisch Platz nahm.
    »Mich würde das nicht davon abhalten, noch was zu essen.«
    Er lächelte und setzte seine Brille auf. »Dann wollen wir doch mal einen Blick auf Ihren Stundenplan werfen. Sie halten heute morgen um elf eine Vorlesung und dann noch eine um eins. Beide im College, im alten Pathologiegebäude. Ich schätze, daß zu jeder etwa fünfundsiebzig Studenten kommen werden, aber vielleicht werden es auch mehr. Ich weiß nicht, Sie sind hier schrecklich beliebt, Dr. Kay Scarpetta«, sagte er vergnügt. »Oder vielleicht liegt es auch nur daran, daß amerikanische Kriminalität für uns so etwas Exotisches ist.«
    »Das ist beinahe so, als würde man die Pest als exotisch bezeichnen«, erwiderte ich.
    »Nun ja - wir finden es einfach faszinierend, was Sie so alles zu Gesicht bekommen.«
    »Genau das ist es, was mir Sorgen macht«, sagte ich freundlich, aber mit einem unheilvollen Unterton. »Sie sollten es nicht allzu faszinierend finden.«
    Wir wurden vom Telefon unterbrochen, und er griff mit der Ungeduld eines Menschen, der zu oft angerufen wird, zum Hörer.
    Nachdem er einen Moment lang zugehört hatte, sagte er brüsk: »Schon klar. Aber wir können im Moment einfach keinen solchen Auftrag erteilen. Ich muss Sie wieder anrufen.«
    »Seit Jahren will ich hier Computer haben«, beschwerte er sich bei mir, als er auflegte. »Aber da wir nach der Pfeife der Sozialisten tanzen müssen, gibt es eben kein Geld.«
    »Es wird nie genug Geld geben. Tote gehen nun mal nicht zur Wahl.«
    »Das ist leider wahr. Also, was ist heute das Thema?« wollte er wissen.
    »Der Sexualmord«, antwortete ich. »Im besonderen die Rolle, die der genetische Fingerabdruck dabei spielen kann.«
    »Diese Verstümmelungen, für die Sie sich so interessieren.«
    Er nahm einen Schluck Tee. »Glauben Sie, daß die sexueller Natur sind? Ich meine, könnte das bei einem Menschen, der so etwas tut, das Motiv sein?« Seine Augen leuchteten wissbegierig.
    »Das spielt sicherlich eine Rolle«, antwortete ich.
    »Aber woher wollen Sie das wissen, wo doch keins der Opfer jemals identifiziert wurde? Könnte es nicht einfach jemand sein, für den Töten ein Sport ist? Wie zum Beispiel der Son of Sam bei Ihnen in Amerika?«
    »Auch die Morde des Son of Sam hatten eine sexuelle Komponente«, sagte ich und sah mich nach meiner Freundin, der Pathologin, um. »Was glauben Sie, wie lange sie noch brauchen wird? Ich bin leider ein bisschen in Eile.«
    Shaw schaute noch mal auf die Uhr. »Sehen Sie doch mal nach. Oder vielleicht ist sie auch gleich ins Leichenschauhaus gegangen. Wir sollten einen Fall reinbekommen. Ein junger Mann, Verdacht auf Selbstmord.«
    »Ich guck' mal, ob ich sie finde.« Ich stand auf.
    Der Gerichtssaal, in dem die gerichtlichen Untersuchungen der Todesursache bei nichtnatürlichen Todesfällen, also Betriebs- und Verkehrsunfällen, Morden und Selbstmorden, abgehalten wurden, befand sich in der Nähe des Eingangs. Die Verfahren
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