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Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens
Autoren: Patricia Cornwell
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fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, denn die irische Presse sollte nicht allzu eingehend darüber berichten. Ich schlüpfte in einen kahlen, kalten Raum voller lackierter Bänke und nackter Wände und stieß drinnen auf mehrere Männer, die Papiere in Aktenkoffer stopften.
    »Ich suche die Leichenbeschauerin«, sagte ich.
    »Sie ist vor etwa zwanzig Minuten gegangen. Musste zu einer Identifizierung, glaube ich«, sagte einer von ihnen. Ich verließ das Gebäude durch die Hintertür. Als ich gerade den kleinen Parkplatz überquert hatte und auf das Leichenschauhaus zusteuerte, kam ein alter Mann zur Tür heraus. Er machte einen desorientierten Eindruck und verlor beinahe das Gleichgewicht, als er sich benommen umschaute. Einen Moment lang starrte er mich an, als hätte ich irgendeine Antwort parat. Er tat mir leid. Was immer ihn hierhergeführt hatte, es konnte unmöglich etwas Angenehmes sein. Ich beobachtete, wie er zum Tor eilte, als plötzlich Dr. Margaret Foley aufgelöst, mit wirren grauen Haaren hinter ihm auftauchte.
    »Mein Gott!« Sie rannte mich fast um. »Ich hab' ihm nur einen Moment den Rücken zugedreht, und schon war er auf und davon.«
    Der Mann riss das Tor weit auf und flüchtete. Foley trabte über den Parkplatz, um es wieder zu schließen und zu verriegeln. Als sie zu mir zurückkam, war sie außer Atem und stolperte beinahe über einen Buckel im Asphalt.
    »Na, du bist ja früh auf den Beinen, Kay«, sagte sie.
    »Ein Verwandter?« fragte ich.
    »Der Vater. Ist abgehauen, ohne ihn zu identifizieren. Ich bin noch nicht mal dazu gekommen, ihm das Laken vom Gesicht zu ziehen. Der Tag ist für mich gelaufen.«
    Sie führte mich in das kleine Backsteingebäude mit den weißen Porzellan-Autopsietischen, die wohl eigentlich in ein medizinhistorisches Museum gehörten, und einem alten eisernen Ofen, der nicht mehr benutzt wurde. Die Luft war kalt wie in einer Kühlkammer, und elektrische Autopsiesägen waren die einzigen modernen Geräte, die es gab. Dünnes graues Licht drang durch Milchglasoberlichter herein und erhellte nur schwach das weiße Papierlaken über dem Leichnam, den zu sehen ein Vater nicht hatte ertragen können.
    »Das ist immer das Bitterste am Ganzen«, sagte sie. »Niemand sollte sich hier jemals jemanden anschauen müssen.«
    Ich folgte ihr in einen kleinen Lagerraum und half ihr, Kartons voller neuer Spritzen, OP-Masken und Handschuhe hinauszutragen.
    »Hat sich an den Dachbalken der Scheune erhängt«, fuhr sie fort, während wir arbeiteten. »War wegen eines Alkoholproblems und Depressionen in Behandlung. Immer das gleiche.
    Arbeitslosigkeit, Frauen, Drogen. Sie hängen sich auf oder springen von einer Brücke.« Sie warf mir einen Blick zu, während wir einen Sektionswagen neu bestückten. »Gott sei Dank gibt es bei uns keine Schusswaffen. Zumal ich kein Röntgengerät habe.«
    Foley war eine zierliche Frau mit einer altmodischen dicken Brille und einer Vorliebe für Tweed. Wir hatten uns vor Jahren bei einer internationalen Kriminalistikkonferenz in Wien kennengelernt, als weibliche Gerichtsmediziner noch eine seltene Spezies waren, vor allem außerhalb Amerikas.
    Wir waren schnell Freundinnen geworden.
    »Margaret, ich muss früher zurück in die Staaten, als ich dachte«, sagte ich, holte tief Luft und schaute mich unkonzentriert um. »Ich hab' letzte Nacht so gut wie gar nicht geschlafen.«
    Sie zündete sich eine Zigarette an und musterte mich. »Ich kann dir Kopien von allem besorgen, was du haben willst. Wie schnell brauchst du sie? Fotos dauern vielleicht ein paar Tage, aber die kann ich dir nachsenden.«
    »Ich finde, es herrscht immer ein gewisser Zeitdruck, wenn so jemand frei herumläuft«, sagte ich.
    »Ich bin auch nicht froh darüber, daß du ihn jetzt am Hals hast. Ich hatte gehofft, daß er nach all diesen Jahren endlich aufgehört hätte.« Gereizt aschte sie ihre Zigarette ab und stieß den starken Qualm britischen Tabaks aus. »Komm, wir setzen uns mal einen Augenblick hin. Meine Füße sind so geschwollen, daß mir schon die Schuhe zu eng werden. Auf so einem verdammt harten Fußboden alt zu werden ist die Hölle.«
    Zwei klobige Holzstühle in einer Ecke stellten den Aufenthaltsraum dar. Auf einer Bahre hatte Foley ihren Aschenbecher stehen. Sie legte die Füße auf eine Kiste und gab sich ihrem Laster hin.
    »Ich kann diese armen Menschen einfach nicht vergessen.«
    Sie sprach wieder über die Serienmorde. »Als der erste bei mir ankam,
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