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Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens
Autoren: Patricia Cornwell
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erwiderte ich. Die Unterhaltung passte mir gar nicht.
    Aber diesmal ließ sie nicht locker. »Und zwar einerseits aus ganz anderen, andererseits aber auch aus ganz ähnlichen Gründen wie er. Er ist ein Verbrecher, du nicht. Aber ihr wollt beide entkommen.«
    Ich konnte nicht verbergen, wie sehr ihre Worte mir an die Nieren gingen.
    »Und wer oder was ist deiner Meinung nach hinter mir her?«
    Meine Stimme klang unbeschwert, aber ich war den Tränen bedrohlich nahe.
    »Momentan Benton Wesley, nehme ich an.«
    Ich schaute weg, vorbei an der Bahre, über die ein bleicher Fuß mit einem Schild hinausragte. Wolken schoben sich vor die Sonne, und das von oben kommende Licht veränderte sich nach und nach. Der Geruch des Todes, der in der Fliesen und Steinen hing, war hundert Jahre alt.
    »Kay, was willst du tun?« fragte sie sanft, während ich mir die Tränen aus den Augen wischte.
    »Er will mich heiraten«, sagte ich.
    Ich flog heim nach Richmond. Aus Tagen wurden Wochen, und draußen wurde es kalt. Die Morgenstunden waren mit Frost überzuckert, und die Abende verbrachte ich grübelnd vor dem Kamin. So vieles war ungelöst und unausgesprochen, und wie üblich bestand meine Reaktion darin, mich immer tiefer ins Labyrinth meiner Arbeit zu vergraben, bis ich den Ausgang nicht mehr fand. Meine Sekretärin brachte das zur Weißglut.
    »Dr. Scarpetta?« rief sie meinen Namen. Laut und energisch hallten ihre Schritte über den gefliesten Boden des Autopsiesaals.
    »Hier drinnen«, übertönte ich das Geräusch fließenden Wassers.
    Es war der 30. Oktober. Ich stand im Umkleideraum des Leichenschauhauses und wusch mich mit antibakterieller Seife.
    »Wo waren Sie denn?« fragte Rose, als sie hereinkam.
    »Ich habe an einem Gehirn gesessen. Der plötzliche Tod von neulich.«
    Sie blätterte in meinem Kalender. Ihr graues Haar war fein säuberlich zurückgesteckt, und sie trug ein dunkelrotes Kostüm, das offenbar zu ihrer Stimmung passte. Rose war äußerst böse auf mich, weil ich nach Dublin geflogen war, ohne mich zu verabschieden. Und dann hatte ich, als ich wieder zurück war, auch noch ihren Geburtstag vergessen. Ich drehte den Wasserhahn zu und trocknete mir die Hände ab.
    »Schwellung mit Erweiterung der Hirnwindungen bei gleichzeitiger Verschmälerung der Hirnfurchen. Das spricht alles für einen Hirnschaden aufgrund mangelhafter Blutversorgung, hervorgerufen durch seine schwere Hypotonie«, deklamierte ich.
    »Ich habe Sie überall gesucht«, sagte sie. Sie war mit ihrer Geduld am Ende.
    »Was hab' ich diesmal angestellt?« Ich nahm die Hände hoch.
    »Sie waren mit Jon zum Mittagessen im Skull and Bones verabredet.«
    »Oh, Gott«, stöhnte ich beim Gedanken an ihn und andere Medizinstudenten , für die ich so wenig Zeit hatte.
    »Ich habe Sie heute morgen noch daran erinnert. Letzte Woche haben Sie ihn auch schon versetzt. Er muss dringend wegen seiner Assistenzarztstelle an der Cleveland Clinic mit Ihnen sprechen.«
    »Ich weiß, ich weiß.« Mit furchtbar schlechtem Gewissen sah ich auf meine Armbanduhr. »Es ist halb zwei. Vielleicht kann er zum Kaffee in mein Büro kommen?«
    »Um zwei haben Sie eine Aussage zu machen, und für drei ist eine Konferenzschaltung wegen des Falls Norfolk-Southern angesetzt. Um vier halten Sie an der Forensic Science Academy eine Vorlesung über Schusswunden, und um fünf haben Sie ein Treffen mit Investigator Ring«, ratterte Rose herunter.
    Ich mochte weder Ring noch seine nassforsche Art, Fälle zu übernehmen. Er hatte sich in die Ermittlungen eingeschaltet, als der zweite Rumpf gefunden wurde, und offenbar hielt er sich für klüger als das FBI.
    »Auf Ring kann ich gut verzichten«, sagte ich knapp.
    Meine Sekretärin sah mich einen langen Augenblick lang an, während im Autopsiesaal nebenan Schwämme auf Wasser klatschten.
    »Ich sage ihm ab, und Sie können sich statt dessen mit Jon treffen.« Sie musterte mich über ihre Brille hinweg wie eine gestrenge Oberlehrerin. »Und dann ruhen Sie sich aus. Das ist ein Befehl. Morgen kommen Sie nicht hierher, Dr. Scarpetta. Und wehe, Sie stehen plötzlich doch vor der Tür.«
    Ich wollte protestieren, doch sie schnitt mir das Wort ab.
    »Wagen Sie es ja nicht, mir zu widersprechen«, fuhr sie mit fester Stimme fort. »Sie brauchen einen Tag, um sich zu erholen, ein langes Wochenende. Das würde ich nicht sagen, wenn ich es nicht ernst meinte.«
    Sie hatte recht. Der Gedanke, einen Tag ganz für mich zu haben, hellte meine Stimmung
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