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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Autoren: Richard Harvell
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streckte
meine langen Arme aus und türmte mich über ihr auf.
    Sie griff an.
    Sie kratzte mich am Hals und
versuchte, mir mit ihren dolchartigen Fingernägeln die Augen auszukratzen. Ich
schrie auf und bemühte mich, sie abzuwehren, aber sie war eine Löwin, die ganz
aus Krallen und Brüllen zu bestehen schien.
    Mit jedem Schlag der Glocke verstärkte
sie ihren Angriff. Plötzlich zerrte sie mit einer Hand an meinem Haar und mit
der anderen versuchte sie, mir den Hals zuzudrücken. Ich konnte nicht atmen.
Sie konnte mich nicht keuchen hören, aber ich hörte ihr Knurren nur allzu gut.
    Ich zog mein Messer und zielte auf ihr
Gesicht. Ich traf nicht, aber sie sah es im Mondschein blitzen, sprang zurück
und ließ meinen Hals los. Sie wich zur Wand zurück. Ich richtete das Messer mit
zitternder Hand auf ihre Brust und rang nach Atem.
    Ich hatte das Messer nur für die
Glocke besorgt. Ich wollte sein Metall nicht mit ihrem bösen Blut beschmutzen.
    Auf dem Boden stand eine Truhe, die
aussah, als hätte sie einen vornehmen General auf einem wichtigen Feldzug
begleitet. Sie schien geeignet, die Gräfin aufzunehmen, bis die Glocke
verstummt und ich verschwunden war. Mit dem Messer in der Hand bedeutete ich
ihr, hineinzuklettern, was sie auch tat, aber bei ihrem letzten Blick lief es
mir kalt über den Rücken, denn ihre Augen sagten mir, dass ich unsere nächste
Begegnung nicht überleben würde. Ich verschloss die Truhe und setzte meine
Mission fort.
    Das Palais war zum Leben erwacht.
Glücklicherweise brauchten alle ihre beiden Hände, um sich die Ohren
zuzuhalten, sodass die Riechers und ihre Diener nichts als unbeholfene Schatten
in den dunklen Gängen waren. Es schien, als hätte das Läuten an Lautstärke
sogar noch zugenommen. Ich stellte mir vor, wie meine drei Freunde nach oben
sprangen und dann wieder sanft nach unten fielen. Meine Füße kribbelten, als
das Haus unter dem Geläute erzitterte.
    Meine Ohren hörten natürlich jeden
Schritt, jede Stimme, die die verdammten Glocken verfluchte – und schließlich
war da der Laut, für den ich gekommen war: das Weinen eines Babys. Ich glitt an
menschlichen Schatten vorbei, als ich die Treppe in Richtung des Weinens
hochstieg und den Gang entlangging, der zu Antons Flügel führte. Dort stieß ich
beinahe mit einem weiteren Schatten zusammen, und als er murmelte: »Diese
verdammte Glocke!«, hörte ich, dass es niemand anders als Anton Riecher selbst
war.
    Das Weinen seines Sohnes hörte er
nicht, obwohl die Schreie durch eine Tür drangen, die keine zehn Schritte
entfernt war. Er rannte an mir vorbei auf die Treppe zu, ohne Zweifel auf der
Suche nach seiner Mutter. Ich drückte mich an die Wand, als seine Schritte die
Treppe hinunter verschwanden. Dann eilte ich über den Korridor und stürzte in
das Kinderzimmer.

XXIV.
    Die freundliche
Kinderschwester und das Baby: vier schutzbedürftige Ohren und nur zwei
geeignete Hände. Der Anblick schnitt mir ins Herz. Die Frau lag so verrenkt auf
dem kahlen Holzboden, als wäre sie eine Treppe heruntergefallen. Durch das
einzige Fenster fiel ein Mondstrahl auf die beiden. Das Baby lag an der Brust
der Frau, ein Ohr an ihren Busen gedrückt. Die Kinderschwester hielt ihre
rechte Hand vor das andere Ohr des Kindes – und hatte nur noch eine Hand, um
sich selbst zu schützen. Also presste sie den Kopf an die linke Schulter und
legte den linken Arm über den Kopf vor das rechte Ohr.
    Das hätte möglicherweise genügt, wenn
sich das Kind nicht in ihrer Umarmung gewunden hätte und sein Körper nicht von
Schreien erschüttert worden wäre. Ich eilte zu ihnen, schnappte mir das Kind
und drückte es an meine Brust. Mit einer Hand hielt ich ihm sein ungeschütztes
Ohr zu, und mit der anderen zog ich einen Klumpen Bienenwachs aus der Tasche.
Ich verschloss ihm damit erst das eine, dann das andere Ohr, während der Junge
in meinen Armen zappelte. Sein Gesicht war rot angelaufen und er unterbrach
sein Schreien erst, als er nicht mehr genügend Luft dafür hatte.
    Ich drückte ihn an meine vogelgleiche
Brust – die fürs Singen geformt war, nicht dafür, ein Kind zu halten –, hielt
seinen Kopf in meiner Hand und streichelte mit meinen langen zarten Fingern
seine Stirn. Die Glocke ließ die Stadt immer noch erbeben. Ich begann zu
singen, damit das Kind – mein Sohn! – meine Stimme in seinem Inneren spüren
konnte. Sie beruhigte ihn genauso, wie sie seine Großmutter im Krankenbett und
seine Mutter bei seiner Geburt beruhigt
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