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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Autoren: Richard Harvell
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sie
hörten mich nicht. Rund herum und wieder herum flog ich die Stufen des Turms
nach unten, und zum Glück erreichte ich das Schiff, bevor ich ohnmächtig wurde.
Ich blies meine Kerze aus. Ich glitt durch die Kirche und flüchtete in die
Nacht.
    Als ich den Platz halb überquert
hatte, hörte ich das leiseste Summen, und es erfüllte mich mit einer solchen
Freude, dass ich stehen blieb. Ich schloss die Augen. Ein Dröhnen pochte durch
die Nacht. Ich ließ mich vom Kopf bis zu den Füßen von ihm zum Zittern bringen.
Es befreite mich von jeder Angst, die ich noch gehabt haben mochte.
    »Ja!«, rief ich zu meinen Freunden in
die Höhe hinauf. »Ja, ihr schafft es!«
    So war es! Sie brachten die größte,
lauteste Glocke des Kaiserreiches zum Klingen. Sie klang jetzt wie Schritte,
die über den Himmel liefen. Bum! Bum! Bum! Das Läuten füllte sogar die Stille zwischen den
Schlägen, und inzwischen musste es für jedes Ohr in Wien zu hören sein.
Soldaten schossen auf ihren Lagern in die Höhe, weil sie glaubten, die
preußische Armee käme. Die Kaiserin erwachte und rief nach ihrem Geistlichen.
In jedem Haus schrien Kinder, die aus ihren Träumen geschreckt waren. Hunde
jaulten den Himmel an. Die Vibrationen ließen Eis und Schnee von den Dächern
rutschen. In der ganzen Inneren Stadt bis hin zur Burg zersprangen
Fensterschreiben. Jeder kannte dieses Geräusch, aber alle dachten: In fünfzig
Jahren hat sie doch noch nie so laut geläutet!
    Ich lief vom Platz weg.
    Dann kletterte ich auf die Kutsche und
band den Ofen los. Ich schulterte ihn mit großer Mühe. Aus etlichen Fenstern
des Palais Riecher drang Lichtschein, aber jenes, das der Kutsche am nächsten
lag, war immer noch dunkel. Ich schickte ein Stoßgebet zu Gott. Ich taumelte
zurück, stolperte vorwärts und hievte den Ofen durch das Fenster.
    Ein ohrenbetäubendes Scheppern. Der
fallende Ofen schlug auf wie eine hüpfende Kanonenkugel, und zerbrochenes Glas
klirrte und klingelte in dem dunklen Raum, aber ich betete, dass nur meine
Ohren diese Geräusche über dem Läuten der Glocke hören konnten.
    Ich hockte oben auf der Kutsche, sah
die Straße hinauf und hinunter, vergewisserte mich, dass der Zerberus nicht aus
seinem Tor sah, und trat durch das Fenster, als wäre es eine Tür.
    Die Entfernung zum Boden war
allerdings größer, als ich gedacht hatte, sodass ich der Länge nach auf
zerbrochenem Glas landete, als ich ins Zimmer sprang. Aber es dauerte nur einen
Augenblick, bis ich wieder auf den Füßen stand – keine Zeit, mich mit den Kratzern
und Schnitten aufzuhalten. Ich schüttelte die Scherben ab, wie ein Hund Wasser
abschüttelt.
    Ich schien in einer Art Bibliothek
gelandet zu sein. Den Ofen schob ich unter einen Schreibtisch, dann kroch ich
zur Tür und lauschte. Aber schon war mein Glück zu Ende! Denn trotz des
gewaltigen Läutens vernahm ich Schritte, und dann sah ich entsetzt, wie sich
der Türknauf drehte. Meine Berechnungen waren falsch gewesen! Jemand hatte mich
gehört. Ich hatte kaum genug Zeit, um mich hinter der Tür zu verstecken, als
sich diese auch schon öffnete und Gräfin Riecher persönlich hereinkam.
    Sie hielt sich beide Hände an die
Ohren, sodass sich die Ärmel ihres seidenen Hausmantels an den Schultern
bauschten und ihre Ellenbogen enthüllt wurden, die so spitz waren, dass sie
mich in Erstaunen versetzten. Sie starrte auf das zerbrochene Fenster. »Diese
verdammte Glocke«, murmelte sie und wandte sich ab.
    Vielleicht hatte sie mich gar nicht
gehört? Sie schien irgendetwas auf einem Regal zu suchen.
    Ich bewegte mich nicht.
    Offenbar hatte sie das Gesuchte
gefunden, denn sie nahm schnell eine Hand vom Ohr, griff ins Regal und stopfte
sich etwas ins Ohr.
    Natürlich!, dachte ich. Sie wohnt
direkt unterhalb der Glocken. Und sie ist genau die Sorte Frau, die ein Mittel
hat, um den Lärm auszusperren. Als sie sich wieder der Tür zuwandte, stand ich
immer noch da und hoffte, sie würde meinen Schatten für eine vergessene Büste
oder Statue halten. Aber natürlich war sie eine Frau, die nie etwas vergaß. Im
schwachen Mondlicht starrte sie mich an und versuchte, meine Gesichtszüge
auszumachen. Sie wich zurück.
    Ich stürzte mich auf sie. Sie schrie.
Doch selbst wenn ihr Mann direkt im Nebenzimmer geschlafen hätte, wäre es ihm
unmöglich gewesen, sie zu hören.
    Sie riss die Augen auf. »Du«, sagte sie,
obwohl sie sich bei dem Lärm vermutlich nicht einmal selbst verstehen konnte.
    »Ihr!«, rief ich zurück. Ich
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