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Der Kannibalenclan

Der Kannibalenclan

Titel: Der Kannibalenclan
Autoren: Jaques Buval
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das Mädchen auf:
    »Ihr braucht keine Angst zu haben, der ist nicht von der Polizei. Der schreibt ein Buch über unsere Stadt. Der kommt von weit her, extra zu uns.«
    Langsam wagen sich die Mädchen aus ihren kleinen Kammern. Es sind insgesamt zwölf Mädchen. Mädchen zwischen neun und sechzehn Jahren. Sie sind allesamt besser gekleidet als die Straßenjungen; auch scheinen sie gepflegter zu sein. Doch diese Augen: Sie wirken so hilflos und traurig!
    Man merkt den Kindern an, dass sie Angst haben. Vorsichtig versuchen sie zu ergründen, was auf sie zukommt. Die größeren Mädchen unter ihnen nehmen die kleineren an die Hand. Man wartet jeden Moment darauf, dass sie ihre Puppe holen, doch etwas zum Spielen gibt es nicht mehr für sie.
    Angst steht in ihren Gesichtern geschrieben, große, unbeschreibliche Angst. Da stehen sie mit ihren dünnen Storchenbeinen und warten, was man nun von ihnen will.
    »Der will nur wissen, was ihr so macht den ganzen Tag.
    Sonst nichts, das ist nicht so einer«, nimmt Nikolajew die Situation in die Hand. Er bemerkt, dass die Mädchen verschüchtert sind. Die größeren, alle eine Plastiktüte in der Hand, werden sichtlich ruhiger. »Ich sag’ euch doch, der will nichts von euch. Er will nur, dass ihr ihm erzählt, was ihr so den ganzen Tag treibt. Von uns hat er das auch wissen wollen.«
    »Was will er denn von uns wissen?«, fragt die Größere.
    »Na, alles halt, das mit den Männern und so, und was mit euren Alten los ist«
    Es vergehen Minuten, bis sich die Situation normalisiert.
    Langsam beginnen die Mädchen, Vertrauen zu fassen, und Ludmilla, ein älteres Mädchen, beginnt zu sprechen.
    »Warum wollen Sie wissen, was wir so den ganzen Tag treiben?« – Doch sie bekommt keine zufrieden stellende Antwort. Sie kann nicht verstehen, warum sich ein Mensch –
    und noch dazu ein Mann – für ihr Leben interessiert. Und doch, plötzlich sprudelt es aus ihr hervor, als wolle sie sich alles von der Seele schreien.
    »Die meisten von uns haben keine Eltern. Manche Eltern sind geschieden und froh, uns los zu sein. Die Mutter der kleinen Olga« – und dabei zeigt sie auf das kleinste der Mädchen – »brachte sie selbst hierher. Sie sagte, ich soll auf sie aufpassen, sie würde in eine andere Stadt ziehen, und da könnte sie sie nicht gebrauchen. Seitdem ist sie bei uns.«
    Während sie das sagt, geht sie zur Haustür und sperrt sie ab.
    »Jetzt haben wir wenigstens Ruhe.«
    Sie führt ihren Besuch in einen größeren Raum, und alle Mädchen folgen ihr. In einem Halbkreis setzen sie sich auf den kalten Betonboden. Ihre ersten Worte: »Geben Sie uns denn ein wenig Geld, damit wir uns was zu essen kaufen können?
    Wissen Sie, die meisten Männer geben uns kein Geld, und wenn wir sie darum bitten, drohen sie, mit uns zur Polizei zu gehen.«
    Sie denkt darüber nach, ob sie weitersprechen soll, da mischt sich Nikolajew ein: »Na, red schon, der gibt dir schon was.«
    Sie spricht weiter: »Früher sind wir zum Betteln gegangen und haben auch ab und zu etwas bekommen. Vor allem von den Frauen, wenn sie vom Einkaufen kamen. Aber jetzt, wo die Leute selbst kein Geld mehr haben, geben sie uns auch nichts mehr. Da haben wir die Männer angebettelt, doch die wollten etwas ganz anderes von uns. Seitdem wir das machen, was die Männer wollen, geht es uns besser. Sie bringen uns immer Drogen, manchmal geben sie uns auch Geld.«
    »Was sind das für Männer?«
    »Meistens ältere, und viele davon sind besoffen. Dann wollen sie immer die ganz kleinen Mädchen, aber die weinen immer so, weil es ihnen so wehtut. Wenn sie dann nicht aufhören zu weinen, schlagen die Männer sie auch. Manchmal stehlen wir den Männern Geld aus der Hosentasche, dann können wir uns wieder etwas zu essen kaufen.«
    »Wer von euch ist denn auf die Idee gekommen, in dieses Haus zu ziehen und es zu dem zu machen, was es heute ist?«
    »Das war meine Freundin«, gibt sie zu verstehen.
    »Nadeschda war damals fünfzehn Jahre alt, und dieses Haus gehörte ihren Eltern. Doch beide sind nach Nowosibirsk gezogen, weil der Vater hier keine Arbeit fand. Er hoffte, in der Großstadt eine zu bekommen. Wie so viele hier wollten sie ein neues Leben beginnen. Ein neues Leben, ohne ihre im Wege stehende Tochter. So stand sie plötzlich völlig alleine da, allein mit diesem verlassenen Haus. Ein Bruder ihres Vaters, ihr eigener Onkel brachte sie dann auf die Idee, ein solches Haus einzurichten. Er wurde ihr erster Kunde. Natürlich
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