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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
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sind. Unwahrscheinlich ist, dass ich in China bin, das ist sogar höchst unwahrscheinlich, und am unwahrscheinlichsten ist, dass ich gleich heiraten werde«, und auf einmal musste ich anfangen zu lachen, ich konnte gar nicht mehr damit aufhören, die Tränen liefen mir die Wangen hinunter, ich schnappte nach Luft, die Pathologin sah mich irritiert an, was mich nur noch mehr zum Lachen brachte, immer konnte ich nur für ein paar Sekunden einhalten, dann prustete es wieder aus mir heraus, mein ganzer Körper bebte, meine Bauchmuskeln schmerzten, und ich war unglaublich erschöpft, und ich war unglaublich erleichtert und wohl zweifellos auch unglaublich gerührt, denn ich versuchte, die Pathologin zu umarmen, was die aber zu verhindern wusste. Mit beiden Armen drückte sie mich von sich weg. »Vielen Dank für Ihr Kommen«, sagte sie und schob mich Richtung Tür. Es tue mir leid, dass ich ihr nicht habe helfen können, sagte ich. Die Pathologin zuckte mit den Schultern. »Wenn Ihnen doch noch einfällt, dass Sie diesen Mann irgendwoher kennen, dann melden Sie sich bitte sofort.« »Natürlich«, sagte ich, aber ich wusste, das würde nicht passieren, dafür kannte ich diesen Mann gut genug.
    Ich war schon die Hälfte des Ganges wieder hinuntergegangen, als mir die Pathologin hinterhergeeilt kam. »Die Karte«, sagte sie und streckte die Hand aus, und einen Moment lang überlegte ich, jetzt einfach loszulaufen, so schnell zu rennen, wie ich konnte, aus dem Krankenhaus raus, in einen hoffentlich gerade abfahrenden Bus hinein, und aus dem Fenster könnte ich dann sehen, wie die Pathologin stehen bleibt, die Hände in die Hüfte gestemmt, wie sie allmählich kleiner und kleiner wird, bis sie schließlich ganz verschwindet, und ich atme schwer und drücke die gerettete Karte an meine Brust und werde sie so schnell nicht loslassen.
    Aber natürlich würde ich damit alles verraten, natürlich wäre die Karte dann nicht in Sicherheit, ich wäre nicht in Sicherheit und mein Großvater schon gar nicht. Ich gab sie der Pathologin zurück. »Haben Sie gelesen, was draufsteht?«, fragte ich so beiläufig wie möglich. »Ich habe es versucht«, sagte sie, dann ging sie langsam den Gang zurück. »Und grüßen Sie Ihren Großvater«, rief sie mir noch nach, ohne sich umzudrehen.
    Auf der Rückfahrt zog ich den gelben Zettel aus meiner Tasche, den ich ein paar Stunden zuvor im Haus eingesteckt hatte, und hielt ihn schräg gegen die Fensterscheibe, doch auch so ließ sich die durchgedrückte Schrift nicht entziffern. Ich öffnete die Klappe des kleinen Aschenbechers neben meinem Sitz, fuhr mit dem Zeigefinger die Innenseite entlang, strich den grauen Staub über die Notiz, und die einzelnen Buchstaben stachen gelb hervor. Ich war enttäuscht, die Nachricht schon zu kennen, sie hatte am Vormittag auf dem alten Ballettkleid meiner jüngeren Schwester geklebt. »Ist dir das nicht viel zu eng?« stand darauf, und schon dort hatte mich dieser Satz geärgert, immer mischte sich mein Großvater in alles ein, zu allem musste er ständig seine Meinung äußern, und jetzt im Zug ärgerte mich dieser Satz noch viel mehr, weil es offenbar das Letzte war, was er uns hatte mitteilen wollen.
    Kein »Lebt wohl«, kein »Wartet nicht auf mich«, kein dramatisches »Ich werde die Katze von euch grüßen«. Nur dieses »Ist dir das nicht viel zu eng?«, als ob es wirklich nicht mehr als eine Reise war, die er da antrat, als ob er bald zurückkehren wollte, um sich dann weiterhin in alles einzumischen, und ich konnte nur hoffen, dass auch diese nichtssagende Nachricht Teil des Plans war, von dem ich glaubte, ihn nun für ihn ausgeführt zu haben. Er hatte sich einfach keine endgültige Verabschiedung erlauben dürfen, schließlich war er doch nur auf Reisen, man hatte ihn lediglich aus den Augen verloren.
    Ich zerknüllte den gelben Zettel und warf ihn in den Aschenbecher. In einer halben Stunde würde ich zu Hause sein, um drei war der Termin auf dem Standesamt, und auf einmal war ich unglaublich müde, auf einmal erschien gar nichts mehr dringend, außer zu schlafen. Und genau das würde ich tun, ich würde gleich nach der Ankunft ins Gartenhaus fahren, mich hinlegen und hoffen, erst am nächsten Tag wieder aufzuwachen.

Bei Fenghuang , den 24. Mai
    Meine Lieben,
    links neben mir liegt eine Trapezkünstlerin, rechts eine Schlangenfrau, sie schlafen schon, und auch ich bin eigentlich viel zu erschöpft, um noch zu schreiben, aber so vieles ist heute
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