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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
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sämtliche Zuschauer gebannt nach vorne schauten. An den Akrobaten konnte es nicht liegen, deren Pyramide war längst in sich zusammengebrochen, sie lagen über die Bühne verstreut und starrten nach oben. Und dann sah Großvater Lian . In zehn Metern Höhe stand sie auf der kleinen Plattform am Ende des Hochseils. Sie trug einen schlichten weißen Umhang und, soweit Großvater das erkennen konnte, keinerlei Schminke. Neben ihr, beängstigend nah an den Rand gedrängt, stand Hu und umklammerte Lians linke Hand, in der rechten hielt sie einen lächerlich kleinen Sonnenschirm.
    Einen Moment lang war Großvater wie gelähmt, »Angst und Freude nahmen sich in mir gegenseitig die Sicht«, dann rannte er den Gang hinunter, sprang auf die Bühne und stieg so schnell er konnte die schmale Leiter empor, die zur Plattform auf der anderen Seite des Hochseils führte. Das Holzgestell unter ihm schwankte bedrohlich, auf Lians Seite musste es da noch viel schlimmer zugehen, er schaute zu ihr hinüber, suchte ihren Blick und erschrak, als er ihn nicht fand. Zwar waren ihre Augen geöffnet, sie sahen ihn auch an, aber nichts konnte er in ihnen erkennen, keine Angst, keine Freude, keine Trauer, keine Liebe, keinen Triumph, keine Erschöpfung, »nicht einmal Gleichgültigkeit«, sagte Großvater und rieb seine Essstäbchen so heftig gegeneinander, dass ich schon glaubte, Rauch aufsteigen zu sehen. »Es war, als sei der Brunnen, in den ich sonst immer blickte, auf einmal zugemauert.«
    Die Artisten auf und hinter der Bühne hatten ihr erstes Entsetzen überwunden, sie liefen nun aufgeregt hin und her, riefen alle durcheinander Lians Namen und noch andere Dinge, die Großvater nicht verstand, und begannen, die Leiter zu Lians Plattform hinaufzuklettern. Eine Zeit lang konnte Hu sie noch mit den Füßen zurückdrängen, dann bekamen die ersten den Saum von Lians Umhang zu fassen, andere griffen schon nach ihren Knöcheln, der Schwertschlucker versuchte, mit einer langen Klinge das Drahtseil zu kappen, die Trapezkünstler formierten sich in der Luft zu einem menschlichen Lasso, und dann lief Lian los.
    Außer Großvater rechnete jeder im Saal damit, dass der Draht unter Lians Gewicht sofort reißen würde, und den meisten wird es wohl für immer ein Rätsel bleiben, warum er das nicht tat. »Aber sie unterschätzten einfach Lians Stärke«, sagte Großvater. Sie hätten zwar vielleicht gesehen, wie sich jeder Muskel in Lians Körper zusammenzog, wie ihr Kopf in Sekundenschnelle rot anlief, vielleicht hätten sie sogar das Knacken gehört, als der Griff des Sonnenschirms in ihrer Hand zerbarst. »Aber sie haben nicht gesehen, was ich gesehen habe«, sagte er, das sei von unten auch gar nicht möglich gewesen, dass nämlich Lians Füße eine Winzigkeit, vielleicht einen halben Millimeter, über dem Seil schwebten. »Die meisten Menschen«, erklärte uns Großvater, »sind leider immer ein klein wenig zu schwach für ihr Gewicht.« Und genau das halte uns alle am Boden. Nur Lian sei so stark gewesen, dass sie sich selbst in die Luft heben konnte. Deshalb habe sie auch immer so viel essen müssen, sagte er. »Sonst wäre sie dauernd davongeflogen.«
    Schritt für Schritt habe sich Lian weiter vorgewagt, der Umhang, den die Akrobaten noch immer am Saum festhielten, flatterte hinter ihr her wie ein langer weißer Schatten. Großvater blickte kurz zu Hu hinüber, der sich ängstlich am schmalen Geländer der Plattform festklammerte, doch als er Großvaters Blick bemerkte, lächelte er stolz.
    Lian hatte nun fast die Hälfte des Drahtseils erreicht, und das Publikum hielt weiterhin geschlossen den Atem an, alle Münder standen offen, alle Bewegungen waren eingefroren, im Saal herrschte vollkommene Stille, nur das schmatzende Geräusch von Lians Schenkeln war zu hören, wenn sie bei jedem Schritt kurz aneinanderschlugen .
    Als sie nur noch etwa fünf Meter von Großvater entfernt war, erwachten die Akrobaten auf der anderen Seite aus ihrer verwunderten Starre, stiegen so schnell sie konnten die Leiter hinunter, rannten über die Bühne und kletterten zu Großvaters Plattform hinauf. Nur Hu blieb drüben zurück, er hatte die Hände vor die Augen geschlagen, aber er lächelte weiter.
    Unser Essen war längst kalt geworden, ohne dass auch nur einer von uns einen Bissen genommen hätte. Dai rückte immer näher an Großvater heran, klammerte sich an seinen Arm, obwohl sie die Geschichte schon längst kannte.
    »Vier, fünf Schritte war Lian nur noch
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