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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
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klingelte.
    Schon nach wenigen Sekunden öffnete ein kleiner Mann im roten Trikot. Er schien außer Atem, warf nur einen kurzen Blick auf uns, dann drehte er sich wieder um und begann, in atemberaubendem Tempo Flickflacks den Flur hinunter zu schlagen, wobei er alle paar Sekunden stolperte, fluchend wieder aufstand, seine Ellbogen rieb und weitermachte.
    Wir folgten ihm, der Flur nahm einige Abzweigungen, und mündete schließlich in einer Art Turnhalle. Das Getümmel, das sich unseren Augen darbot, lässt sich kaum beschreiben.
    Artisten aller Art gingen in wildem Durcheinander ihren Kunststücken nach, und keines davon schien zu gelingen. Wir sahen Gewichtheber, die unter ihren Hanteln eingeklemmt am Boden lagen, wir sahen schwarz verbrannte Feuerspucker, wir sahen Seiltänzerinnen vor niedrigen Schemeln zaudern, wir sahen einen Schwertschlucker, dem lauter Klingen aus dem Bauch ragten, auf halber Höhe des Saales war ein Netz gespannt, in dem einige der Trapezkünstler zappelten, die über unseren Köpfen einander immerzu verfehlten, Clowns steckten in Kanonenrohren fest, Zauberer schüttelten wütend ihre leeren Zylinder, der Boden war übersät mit Jonglierbällen und Wurfmessern.
    Großvater und ich beobachteten all das mit offenen Mündern, Dai schien unbeeindruckt, sie lächelte nur traurig. »Es ist noch genau wie früher«, sagte sie, dann beugte sie sich zu einer heillos verknoteten Schlangenfrau hinunter, fragte etwas, und der Schlangenfrau gelang es irgendwie, ihren rechten Arm unter dem linken Unterschenkel hervorzuziehen und damit auf eine Seitentür zu deuten. Dai drehte sich zu uns um. »Hu ist in seinem Büro«, sagte sie und sah Großvater an. Er nickte.
    Vor dem Büro strich er sich noch ein paar Mal durchs Haar.
    Dai klopfte, von drinnen klang ein krächzender Laut, und wir traten ein.
    Auf den ersten Blick war von Hu nichts zu sehen, erst nach einigen Sekunden entdeckte ich ihn, fast ganz vom Schreibtisch verdeckt, in einer Ecke beim Fenster. Alles schien zu groß für ihn, der Stuhl, auf dem er saß, der Anzug, dessen Ärmel bis weit über die Hände ragten, selbst seine Haut passte ihm nicht, dünn und fleckig hing sie über seinem Schädel wie zum Trocknen. Er blinzelte uns an, stand dann auf, kam mit winzigen Schritten auf uns zu und betrachtete Dais Gesicht, das sie zu ihm hinabbeugte, durch eine Lupe. » Dai «, krächzte er erfreut, umarmte sie, die beiden wechselten aufgeregt ein paar Worte, bis Dai ihm schließlich etwas ins Ohr flüsterte. Hu erstarrte, er blickte vorsichtig zu Großvater hinauf, trat näher an ihn heran, fuhr mit der Lupe sein Gesicht ab, befühlte es mit der Hand und griff schließlich in den lose baumelnden linken Hemdsärmel. Und auf einmal begann der kleine Körper so zu zittern, dass ich kurz befürchtete, er würde vor unseren Augen in sich zusammmenfallen , Hu krallte sich in Großvaters Ärmel, schüttelte ihn, drückte ihn an seine Brust, dann nahm das Zittern ab und Hu räusperte sich. »Die Weltsensation Lian würde Ihnen nun ausrichten, dass ich überglücklich bin, Sie wiederzusehen .« Dai wischte sich etwas aus dem Auge, und auch ich war gerührter, als ich es mir vorgestellt hatte, nur Großvater schien seltsam verhalten. Er trat nur von einem Fuß auf den anderen, blickte sich immer wieder Hilfe suchend zu Dai um, und als Hu ihn fragte, wie es ihm denn ergangen sei seit damals, sagte er: »Im Großen und Ganzen gut.« Bald schon entstand eine unangenehme Stille, Hu ließ Großvaters Ärmel los und spielte verlegen mit seiner Lupe herum. Dass wir auch gar nicht lange stören wollten, sagte Großvater, und Hu nickte hastig. »Einen Moment aber bitte noch«, sagte er, verließ das Zimmer, und Dai und ich begannen, auf Großvater einzureden. Was denn bitte mit ihm los sei, fragten wir, und ob er sich denn gar nicht freue, jetzt, da er sein Ziel erreicht habe, und Großvater unterbrach uns, nichts habe er erreicht, gar nichts, und am allerwenigsten ein Ziel. Er wisse zwar immer noch nicht, was er hier eigentlich gesucht habe, aber gefunden habe er jedenfalls nur einen kleinen Mann, so wie alles kleiner sei als früher, so wie alles nur noch schrumpfe, immer weiter abnehme, und am Ende nur noch durch eine Lupe sichtbar sei.
    Dann solle es doch besser ganz verschwinden. »Lasst uns gehen«, sagte Großvater, und in diesem Augenblick kam Hu zurück, in den Armen einen länglichen Glasbehälter, in dem irgendetwas hin und her schwappte. Er drückte ihn
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