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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
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Antwort natürlich: Ja, stimmt, Großvater, ich hätte mitkommen sollen, das war ein Fehler, du hast mal wieder recht gehabt. Mein Großvater hatte gern recht, mein Großvater hatte angeblich alles immer schon vorher gewusst, du hättest einen Schirm mitnehmen sollen, du hättest auf den Stadtplan schauen sollen, du hättest viel mehr Fremdsprachen lernen sollen, du hättest den Pullover separat waschen sollen, du hättest das Steak bestellen sollen. Mein Großvater war stets beleidigt, wenn man nicht auf ihn gehört hatte, dabei konnte man nie auf ihn hören, weil er einem immer erst im Nachhinein mitteilte, was man alles hätte anders machen sollen, aber ihn habe ja keiner gefragt, und schau, jetzt bist du nass, und schau, jetzt haben wir uns verfahren, und schau, jetzt bin ich tot.
    Ja, ich hätte mitkommen sollen, und nein, ich war nicht mitgekommen, und ich wusste, es sah so aus, als hätte ich ihn sitzen lassen, ich wusste, es sah so aus, als hätte ich ihn betrogen, ich wusste auch, dass ich ihm das alles irgendwie hätte erklären können, aber nun war das nicht mehr nötig. Und ich wusste beim besten Willen nicht, ob es angemessen war, darüber erleichtert zu sein.
    Dass auch die vorletzte Postkarte nicht aus China kam, war leicht zu erkennen. Sie war mit einer deutschen Briefmarke frankiert, das Bild des dicken goldenen Mannes war aus irgendeinem Reiseprospekt herausgerissen und notdürftig über eine Gratispostkarte geklebt worden, eine Ecke hatte sich bereits gelöst, ein Eisbär kam darunter zum Vorschein. Fast alle Karten, die mir mein Großvater in den letzten Wochen geschrieben hatte, waren derart überklebt, manchmal nicht einmal das, einige zeigten Fachwerk, und beim aufgedruckten »Viele Grüße aus dem Westerwald« war das »dem Westerwald« durchgestrichen und handschriftlich durch ein »Schanghai« ersetzt worden.
    Natürlich überraschte es mich kaum, dass mein Großvater China schließlich doch nicht erreicht hatte, achttausend Kilometer, dafür war das Auto einfach zu alt, dafür war auch mein Großvater einfach zu alt, dafür hätte man vor allem auch einen Pass benötigt, und einen Pass hatte mein Großvater ja offenbar nicht dabei, auch keinen Personalausweis, keinen Führerschein, nicht einmal seine Kundenkarte für den Supermarkt, nichts habe man bei ihm gefunden, hatte mir die Frau am Telefon gesagt, nur diese angefangene Postkarte mit meinem Namen darauf. Und warum hatte er die nicht noch fertig schreiben können? Warum hatte er die nicht noch schnell eingeworfen? Dann hätte niemand bei mir angerufen, dann könnte ich ihn mir jetzt vergnügt im Auto vorstellen, wahrscheinlich im Gespräch mit einer attraktiven Anhalterin, die er an irgendeinem Rastplatz mitgenommen hatte, dann müsste ich jetzt nicht so schnell wie möglich in den Westerwald fahren, um meinen Großvater zu identifizieren, dann wüsste ich jetzt nicht, wie wenig nah er China am Ende gekommen war.
    China, ausgerechnet China, als ob es die Nordsee nicht gäbe, als ob es den Harz nicht gäbe, nicht Rügen, nicht Frankreich, keinen Gardasee, es musste China sein, China und nichts anderes. »Ich will darüber nicht diskutieren«, hatte mein Großvater gesagt, und ich hatte gesagt, das treffe sich gut, weil ich darüber nämlich auch nicht diskutieren wolle, China komme nicht in Frage, und ich verschränkte die Arme, und mein Großvater auch, obwohl er nur noch einen Arm hatte, den rechten, doch den konnte er so geschickt um seinen linken Hemdsärmel wickeln, dass es aussah, als handelte es sich um zwei intakt verschränkte Arme, und dann schauten wir uns lange an, mein Großvater möglichst entschlossen und ich möglichst spöttisch, um ihm zu zeigen, was für eine ganz und gar lächerliche Idee China doch sei, und dann sagte mein Großvater: »Ich sterbe.«
    Man darf so einen Satz nicht überbewerten, auch im Nachhinein nicht, auch nicht jetzt, da mein Großvater schon wieder recht behalten hatte. »Du stirbst nicht«, sagte ich deshalb, obwohl das natürlich in jedem Fall eine Lüge gewesen wäre, doch ich wollte es als Argument einfach nicht zulassen, ich wollte nicht zu demjenigen gemacht werden, der letzte Wünsche ausschlägt, ich wollte sachlich bleiben, weil ich sachlich betrachtet natürlich im Recht war und China völlig unmöglich, aber Sterbenden gegenüber zählt Rechthaben wenig, das wusste mein Großvater und hatte deshalb auch sicherheitshalber schon früh mit dem Sterben begonnen. Mein Großvater starb
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