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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
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Großvater in die Hand. »Den habe ich für Sie aufgehoben.«
    Und dann sah ich ihn. Der Arm schwebte in einer trüben Flüssigkeit, oben ragte der abgebrochene Knochen heraus, die Finger waren gekrümmt, sogar die Kratzspuren auf dem Handrücken ließen sich erkennen. Großvater hielt den Behälter unschlüssig vor sich, als solle er nur kurz darauf aufpassen, dann aber begann er auf einmal zu schluchzen, seine Schultern fielen ein, er presste seine Stirn an das Glas, hinter dem sich der Arm langsam auf und ab bewegte, nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, und nun konnte man deutlich sehen, dass es der Arm eines jungen Mannes war. üb wir ihn kurz allein lassen sollten, fragte Dai . Großvater nickte und wir schlichen hinaus. Bevor ich die Tür schloss, drehte er sich noch einmal zu mir um. »Ich halte sie nicht mehr fest«, sagte er und lächelte.
    Hu bestand darauf, dass wir zum Abendessen blieben und selbstverständlich auch über Nacht. »Wann gibt es einen besseren Grund zu feiern«, sagte er, »als wenn alte Freunde und Körperteile sich wiedersehen .«
    Großvater war natürlich der Mittelpunkt des Abends. Immer und immer wieder habe Hu seinen Artisten die Geschichte erzählt, und nun drängten sie sich um ihn, jeder wollte in seiner Nähe sein und die Geschichte noch einmal aus seinem Mund hören, aber Großvater winkte ab. »Ich weiß das alles gar nicht mehr so genau«, behauptete er.
    Gerade die weiblichen Artisten aber blieben beharrlich.
    Ob er sie auch einmal mit Kartoffeln füttern wolle, fragten sie, oder ob sie ihm vielleicht ihre Seiltanznummern vorführen dürften, einige Mutige baten sogar darum, den Stumpf seines linken Arms berühren zu dürfen, und Großvater schüttelte zu alldem höflich den Kopf und zog sich schon früh mit Dai aufs Zimmer zurück. »Mein Enkel wird euch weiter Gesellschaft leisten«, sagte er zum Abschied, »er kommt ganz nach mir.« Und zum ersten Mal störte mich diese Behauptung nicht.
    Es wurde noch ein langer Abend, und nun fallen mir die Augen zu, meine Lieben.
    Obwohl Großvater anderer Meinung ist: Irgendein Ziel ist erreicht. Das fühlt sich gut an, auch wenn es bedeutet, dass man nun weitersehen muss.
    Wie geht es Euch eigentlich? Viele Grüße,
    K.

Das Stemmeisen, mit dem das Schloss des Gartenhauses herausgebrochen worden war, lag auf dem Boden, die Tür hing lose im zersplitterten Rahmen, ich öffnete sie mit zwei Fingern.
    Franziska saß auf dem Schreibtisch. Sie trug ihren blauen Regenmantel, die Beine hatte sie übereinandergeschlagen , in der rechten Hand hielt sie ihr Handy, in der linken verglühte eine Zigarette. Neben ihr lagen unordentlich gestapelt die Briefe, die ich an meine Geschwister geschrieben hatte. Als ich eintrat, blickte sie nicht zu mir herüber, sie drückte nur ein paar Tasten auf dem Handy, kurz danach begann mein Telefon unter dem Schreibtisch zu klingeln, nach dem fünften Klingeln sprang wie gewohnt der Anrufbeantworter an. » Kapunkt , bist du da?«, fragte Franziska, und als ich nicht reagierte, sagte sie: »Schade, ich wollte es dir eigentlich persönlich sagen, aber nun geht es halt nur so.« Noch immer sah sie mich nicht an, mit den Lippen zog sie eine neue Zigarette aus der Schachtel und zündete sie mit dem glühenden Stummel in ihrer Hand an, bevor sie ihn auf den Boden schnippte. »Wenn du das hörst, wirst du schon wissen, dass ich nicht beim Standesamt gewesen bin«, sagte sie. »Du wirst wissen, dass ich dich nicht geheiratet habe«, sagte sie. »Du wirst vorm Eingang gewartet haben, mit diesem unmöglichen Bahnhofsblumenstrauß in der Hand. Du wirst hektisch auf und ab gelaufen sein und jeden, der vorbei kam, nach der Uhrzeit gefragt haben, manche auch mehrmals hintereinander. Du wirst schließlich hinauf in Raum 208 oder was das war gegangen sein, aber auch dort bin ich ja leider nicht gewesen, und der Standesbeamte wird schon ungeduldig geschaut haben, und nein, er hat auch nichts von mir gehört. Du wirst mich von seinem Telefon aus angerufen haben, aber, wie du weißt, bin ich nicht drangegangen. ›Immer vergisst sie ihr Handy‹ wirst du zum Standesbeamten gesagt haben und musstest dabei so komisch lachen, und er wird mit den Schultern ... «
    Mein Anrufbeantworter piepste, Franziska zog an ihrer Zigarette, dann drückte sie die Wahlwiederholung, wartete die Ansage ab und fuhr fort: »Ein hübsches Paar werdet ihr da abgegeben haben, der Standesbeamte und du, wie er seine Zimmerpflanzen gießt, während du
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