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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
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keine große Hilfe sein konnte.
    Die Pathologin sah mich zweifelnd an. Sie wisse, dass solche Momente eine enorme seelische Belastung darstellten, sagte sie. »Aber ist das ganz sicher nicht Ihr Großvater?« Ich warf noch einen bemüht beiläufigen Blick auf die ungehörig vertraute Leiche. »Ganz sicher«, sagte ich, und ob sie etwa glaube, ich würde meinen eigenen Großvater nicht erkennen.
    »Und was ist mit dem Arm?«, fragte die Ärztin, beinah verzweifelt fragte sie das, als ob ich ihr für dieses scheinbare Missverständnis eine Erklärung schuldig sei, sie zog sogar den Reißverschluss des Leichensacks noch ein Stück weiter auf, Großvaters breite, weißbehaarte Brust kam zum Vorschein, die Narbe der Bypass-Operation, wie mit einem Filzstift gezeichnet, der Stumpf des linken Arms, so glatt und rund, dass der rechte dagegen wie ein seltsamer Auswuchs wirkte.
    Wir haben uns als Kinder nie vor dem Stumpf geekelt, im Gegenteil, nicht ausgiebig genug konnten wir ihn betrachten und befühlen, bei jedem Kummer suchten wir dort Trost. Er krempelte dann seinen linken Ärmel hoch und ließ uns nacheinander geduldig über die lederne Rundung streichen. »Leider habe ich nur den einen«, sagte er.
    Ich verspürte das dringende Bedürfnis, auch jetzt die Hand danach auszustrecken, den Stumpf nur kurz zu berühren, ich musste die Arme hinterm Rücken verschränken, um diesem Wunsch nicht nachzugehen. »Das ist der falsche Arm«, sagte ich deshalb schnell zur Ärztin, ich lachte dabei sogar kurz auf.
    »Sie haben sich am Telefon anscheinend vertan. Meinem Großvater fehlt der rechte.«
    Die Pathologin wusste noch immer nicht, was sie von meinen Aussagen halten sollte, wütend schloss sie den Reißverschluss, zu schnell, als dass ich noch einen letzten Blick auf meinen Großvater hätte werfen können, und das, was sich da in rasender Geschwindigkeit in meiner Brust ausbreitete, was da nach oben in den Hals drang, was bis in die Fingerspitzen schoss, was an meinen Knien zerrte, durfte ich mir nicht anmerken lassen. Das alles hier war schließlich mein Abschied, und es ging nicht um letzte Blicke, nicht um gehauchte Beteuerungen, um keinen verhuschten Kuss auf längst blutleere Lippen, es ging um meinen Großvater, ein letztes Mal ging es nur um ihn.
    »Sind Sie denn sicher, dass es Ihrem Großvater gut geht?«, fragte die Pathologin, nachdem sie die Bahre zurück ins Kühlfach geschoben hatte.
    »Ich glaube schon«, sagte ich. »Er ist zurzeit auf Reisen.
    Aber nach allem, was ich von ihm höre, geht es ihm prächtig.« »Wann haben Sie denn zuletzt von ihm gehört?« Sie gab keine Ruhe. »Vor ein paar Wochen«, sagte ich. »Aber das heißt nichts, er hat noch nie viel geschrieben.«
    Sie führte mich zurück in den kleinen Flur. »Da gibt es aber noch diese Postkarte.« üb ich mir die kurz ansehen könne.
    Ich hatte gehofft, dass sie das vergessen würde, ich wollte so schnell wie möglich raus hier, ich wollte an die frische Luft, allzu lange würde ich meine Gleichgültigkeit nicht mehr vortäuschen können. Aber ich nickte, was blieb mir anderes übrig, die Ärztin verschwand kurz in einem anderen Raum, kam mit der Postkarte wieder heraus und reichte sie mir.
    Als Motiv diente eine Kirche, nichts war überklebt, nichts war durchgestrichen, keine Spur von China. Die Rückseite war spärlich beschrieben, die mir so bekannten unleserlichen Zeichen, ich suchte nach dem »Du hättest mitkommen sollen«, aber ich fand es nicht. »Keith Stapperpf « stand im Adressfeld, mehr nicht, das hatte mir die Pathologin bei ihrem ersten Telefonat verschwiegen.
    »Woher wollen Sie wissen, dass die Karte an mich gerichtet ist?«, fragte ich. Die Pathologin lächelte müde, sie hätten das natürlich überprüft, in ganz Deutschland sei ich der Einzige, dessen Name so anfange.
    »Und in Amerika?«, fragte ich. »In Griechenland, in Argentinien, in China? Haben Sie das auch überprüft?« »Nein«, sagte sie, aber das sei doch recht unwahrscheinlich. Ihr Lächeln wurde immer müder, sie glaubte mir kein Wort, aber daran war ich ja gewöhnt. »Unwahrscheinlich«, sagte ich. »Wissen Sie, was unwahrscheinlich ist? Unwahrscheinlich ist, dass hier ein Mann mit fehlendem Arm liegt, der trotzdem nicht mein Großvater ist. Unwahrscheinlich ist, dass er eine angefangene Karte an jemanden dabeihat, der so ähnlich heißt wie ich. Unwahrscheinlich ist, dass dieser Mann keine Papiere bei sich hatte. Unwahrscheinlich ist, dass Sie so braungebrannt
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