Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
Vom Netzwerk:
immer wieder versuchst, mich zu erreichen. Vielleicht sei mir ja auch was zugestoßen, wird er gesagt haben, und das sollte wohl tröstlich klingen. Und dir wird das alles sehr peinlich gewesen sein, auch wenn der Standesbeamte dir immerzu versichert hat, so etwas passiere dauernd, und es sei eine absolute Ausnahme, wenn mal beide Partner erschienen. Er wird dir sogar einen Kaffee angeboten haben, mit Schuss natürlich, und beim zweiten Becher wirst du den Kaffee dann weggelassen haben, und wie immer etwas redselig geworden sein. Du wirst dem armen Menschen die ganze Geschichte von mir und dir und deinem Großvater erzählt haben, natürlich viel zu ausführlich, und du wirst euch dabei immer wieder aus der Rumflasche nachgeschenkt haben, und der Standesbeamte wird pausenlos genickt und ›So, so‹ gesagt haben, manchmal auch ›Ach, du liebe Güte‹, und am Ende wirst du ihn dann angeschaut haben, so gut das nach all dem Rum noch ging, und er wird gelallt haben, ich sei ja wirklich eine faszinierende Frau, aber heiraten würde er mich beim besten Willen nicht. »Seien Sie froh, dass sie nicht gekommen ist«, wird er gesagt haben, und dann werdet ihr euch ungelenk umarmt haben, und du ... «
    Der Anrufbeantworter unterbrach sie wieder, und diesmal ließ sich Franziska Zeit mit der Wahlwiederholung, sie rauchte ihre Zigarette zu Ende, sie schaute aus dem Fenster, sie rieb sich einen Fleck aus dem Mantel, erst dann rief sie wieder an. Unterm Tisch klingelte es wieder, einmal, zweimal, dann ging ich runter auf die Knie, kroch zum Telefon und nahm nach dem vierten Klingeln ab. »Hallo?«, fragte ich. »Hier ist Franziska«, sagte sie. »Franziska«, sagte ich. »Hast du es eben schon mal versucht?« »Vielleicht ein, zwei Mal«, sagte sie, und dann schwiegen wir. Weil Franziska aber auch schneller schweigt als andere, war sie schon bald damit fertig. »Wie geht es dir?«, fragte sie, und ich sagte: »Ganz ordentlich«. »Gut«, sagte Franziska, sie sei froh, das zu hören. »Von wo aus rufst du an?«, fragte ich. Sie räusperte sich kurz. »Aus China«, sagte sie dann, »ich bin in China.« Ich blickte auf den gezeichneten Sternenhimmel über mir, den sichelförmigen Mond, die willkürlich angeordneten Planeten. »Das ist ja ein Zufall«, sagte ich. »Da bin ich auch gerade.« »Was du nicht sagst«, sagte Franziska. »Und du glaubst nicht, was ich hier alles erlebt habe«, sagte ich. »Doch«, sagte Franziska, »wahrscheinlich schon.« Ich blickte auf den Radiowecker, auf die Spülschwämme, auf den Anrufbeantworter mit seinen blinkenden Ziffern. »Wer weiß, vielleicht laufen wir uns sogar über den Weg«, sagte ich dann. Ich hörte, wie sie sich eine neue Zigarette anzündete und fuhr mit den Fingern die Tasten des Anrufbeantworters ab. »Alle löschen« stand neben einer von ihnen, und ich drückte darauf. »Ja, wer weiß. Das passiert leicht in China«, sagte Franziska. Es war jetzt zwanzig vor drei, ich musste die Briefe noch bei meinen Geschwistern einwerfen, bevor sie nach Hause kamen, vielleicht würde ich es auch noch schaffen, chinesische Poststempel auf die Kuverts zu malen. Franziska trommelte mit ihren Fingern von oben auf die Tischplatte, es klang wie Regen. »Ich glaube, ich kann dich schon sehen«, sagte ich und legte auf.

China, den 25. Mai
    Meine Lieben,
    mir bleibt leider nicht viel Zeit zum Schreiben. Einer von Hus Assistenten hat angeboten, mich gleich mit nach Fenghuang zu nehmen, da er dort ohnehin noch ein paar Besorgungen machen müsse. Dort könne er auch die Briefe für mich aufgeben, hat er gesagt und zugegeben, das sei »für Ausländer vielleicht manchmal etwas schwierig«.
    Großvater hat mich in aller Frühe geweckt. Er wolle sich nur schnell verabschieden, sagte er, und ich habe ihn verschlafen angesehen und gefragt, was er denn damit meine, und Großvater schob das Bein der schlafenden Trapezartistin zur Seite und setzte sich auf die Bettkante. Dai und er würden nun losfahren, sagte er. Das hätten sie vergangene Nacht beschlossen. Dai werde bei der Bank kündigen und anfangen zu trainieren, ein paar ihrer Kunststücke habe sie sicher bald wieder drauf, und er selbst werde den Schnürsenkeltrick auffrischen, Zaubern sei ja auch so etwas wie Fahrradfahren, das verlerne man nicht, und nach ein paar Wochen wollten sie dann zusammen von Stadt zu Stadt tingeln, in kleinen Varietes auftreten, jetzt im Sommer auch ruhig auf der Straße. Sie könnten im Freien schlafen und nachts
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher