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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
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Bemühungen meines Großvaters, bloß niemanden zu benachteiligen. Auch die Pubertät, in die meine älteren Geschwister bereits geraten waren, sorgte für biologische Ungerechtigkeiten, für die mein Großvater keinen Ausgleich finden konnte. So bleibt unklar, ob er uns schließlich aus Resignation oder tatsächlichem Umdenken zu einer der damals noch regelmäßig abgehaltenen Familiensitzungen zusammenrief und uns erklärte, seine Energie reiche leider nicht aus, sich uns allen gleichmäßig zu widmen, weshalb er beschlossen habe, sich vornehmlich um mich zu kümmern, um am Ende nicht mit lauter Mittelmaß dazustehen. »Das heißt aber nicht, dass ich euch nicht alle gleich lieb habe«, betonte er, und wir mussten schwören, ihm zu glauben.
    Warum seine Wahl auf mich gefallen war, verriet er mir erst Jahre später und ohne, dass ich danach gefragt hätte. Meine älteren Geschwister, so sagte er, seien einfach schon zu alt gewesen, um da noch »grundsätzlich etwas gerade biegen zu können«, und meiner jüngeren Schwester habe er ohnehin nie ganz über den Weg getraut. »Sie schlägt aus der Art«, sagte er mit einem fast ängstlichen Flüstern, als ob es bei uns überhaupt irgendeine Art gab, aus der man hätte schlagen können.
    Seit der Familiensitzung damals nahm er mich jedes Wochenende mit zu einem kleinen Ausflug, in den Zoo, ins naturwissenschaftliche Museum, in endlos scheinende Klavierkonzerte, und erzählte dann beim Abendessen ausführlich von unseren Erlebnissen, während ich stumm, die Blicke meiner Geschwister sorgfältig meidend, auf meinen Teller starrte. Er half mir geduldig bei den Hausaufgaben, und jeder gut benotete Aufsatz wurde, auch wenn er hauptsächlich von ihm stammte, mehr zur Mahnung für die anderen als zur Belohnung für mich, an den Kühlschrank geheftet.
    Später dann die Spaziergänge. »Du bist etwas ganz Besonderes«, »Aus dir wird mal was«, »Du wirst mich nicht enttäuschen, Keith, das weiß ich einfach.« Als ich mit acht Astronaut werden wollte, schenkte er mir ein Teleskop, als ich mit zehn Geheimagent werden wollte, ließ er mich verschiedene Kampfsportarten lernen, und wir bauten in den Zimmern meiner Geschwister versteckte Abhöranlagen ein, als ich mit dreizehn dann Filmstar werden wollte, schleppte er mich von Casting zu Casting , in einer längst wieder abgesetzten Fernsehserie renne ich mit anderen Kindern eine Straße entlang, das war mein einziger Auftritt. »Du rennst am besten, keine Frage«, sagte mein Großvater, aber da war mir das schon nicht mehr so wichtig.
    Ab meinem vierzehnten Lebensjahr wollte ich dann gar nichts mehr werden, und mein Großvater suchte meine Passionen für mich aus. Architektur, Pyrotechnik, »irgendetwas mit Computern«, die ungelesenen Bücher dazu füllen noch immer ganze Regale. »Du bist eben vielseitig interessiert«, beschloss mein Großvater, und ich widersprach ihm nicht.
    Von all diesen Sonderbehandlungen blieben aber die Postkarten am unangenehmsten, besonders in den letzten Wochen, als mein Großvater mehr als genug Gründe hatte, mir keine mehr zu schicken, wenn ich mir auch nicht ganz sicher war, ob er diese Gründe kannte.
    Manchmal bedankte ich mich bei ihm für die Karten, doch selbst schickte ich nie eine an ihn ab, immer wieder versuchte ich es, immer wieder schrieb ich »Lieber Großvater«, manchmal noch »Vielen Dank für Deine Karte«, aber dann geriet alles ins Stocken, nichts drängte sich als Folgesatz auf, nichts schien mitteilenswert, und die angefangenen Postkarten stapelten sich in meinen Schubladen, viele schon fertig adressiert, manche bereits mit Briefmarken versehen, deren Wert oder Währung mitunter nicht mehr gültig waren. Warum ich die Karten nie wegwarf, weiß ich nicht, vielleicht hielt ich es für Verschwendung, sie waren schließlich fast unbenutzt, vielleicht wollte ich mir auch nur mein Scheitern nicht eingestehen: dass es mir in all den Jahren nicht einmal gelungen war, ein paar belanglose Sätze an ihn zu richten, dass ich mir einredete, der Platz auf einer Postkarte reiche einfach nicht aus für das, was ich glaubte ihm sagen zu wollen, auch wenn ich nicht genau wusste, was das war und welcher Platz dafür wohl angemessen wäre.
    Und jetzt, da aller Platz der Welt nicht ausreichen würde, weil neben der Briefmarke auch der Adressat keine Gültigkeit mehr besaß, zog ich eine der angefangenen Postkarten aus der Schublade.

Lieber Großvater,
    stand da bereits, in viel zu großer Schrift,
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