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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
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Bruder), wie »anregend« (meine ältere Schwester), wie »mal was anderes« (meine jüngere Schwester), und ich sagte, dass ich meinen Platz gern jemand anderem überlassen könne, wenn sie alle so neidisch seien, aber es wurde nur traurig mit den Köpfen geschüttelt, zeitlich sei das leider gerade nicht drin, und dann lächelten sie, »Fahr ruhig du«, sagte meine ältere Schwester, und mein zweitältester Bruder sagte: »Ja, das hast du dir echt verdient.« Womit ich es mir verdient hatte, sagte er nicht.
    Und auch mein Großvater blieb beharrlich, obwohl ich gehofft hatte, er würde China nach ein paar Tagen nicht mehr erwähnen, die ganze Reise nicht mehr erwähnen, die meisten Gutscheine, die wir innerhalb der Familie verschenkten, blieben schließlich uneingelöst, aber es verging kein Tag mehr, an dem er mich nicht auf China ansprach, an dem er mir nicht irgendeinen ausgeschnittenen Zeitungsartikel über China in den Briefkasten warf, an dem es ihm nicht gelang, jedes Gespräch nach spätestens drei Sätzen auf China zu lenken. Ob wir eigentlich wüssten, dass Gold in China »gelbes Salz« heiße, konnte er am Esstisch unvermittelt fragen, er behauptete, interessanterweise sei Jogging ja in China vollkommen unbekannt, wenn mein zweitältester Bruder zu seinen abendlichen Runden aufbrach, und Verabredungen, die man mit ihm zu treffen versuchte, bestätigte er mit: »Du meinst also halb sechs Pekinger Zeit.«
    Das schlicht Starrköpfige der ersten Tage verwandelte sich bei ihm mehr und mehr in eine beängstigende Ernsthaftigkeit. Er schleppte tatsächlich stapelweise Prospekte an, er holte Angebote über günstige Flüge ein, eines Morgens lag sogar ein in Geschenkpapier verpackter Reiseführer vor meiner Tür, im Vorwort hatte er den Satz »China bietet wirklich für jeden etwas« unterstrichen und am Rand noch mit einem doppelten Ausrufezeichen versehen.
    Auf meine fadenscheinigen Einwände antwortete er nun sogar verständnisvoll. Er finde es ja sehr lobenswert, wie ernst ich mein Studium nehmen würde, aber die paar Wochen hätte ich doch im Nu wieder aufgeholt, und tatsächlich etwas Wichtiges versäumen würde ich nur, wenn ich nicht mit nach China führe. Immer schwerer machte er es mir, meine Verweigerung als einzig sinnvolle Haltung auszugeben, immer mehr rutschte ich in die Rolle des Starrköpfigen. »Das mit China ist doch eine Schnapsidee, oder?«, fragte ich abends Franziska, obwohl ich ihr eigentlich versprochen hatte, das Thema nicht mehr anzuschneiden, und als sie dann, statt mir sofort zuzustimmen, nur unschlüssig mit den Schultern zuckte, sagte ich, sie solle bitte nicht auch noch damit anfangen, was denn auf einmal alle mit China hätten, plötzlich seien davon alle ganz begeistert, plötzlich werde von nichts anderem mehr geredet, und von mir aus sollten sie doch alle miteinander nach China fahren, dorthin auswandern sollten sie meinetwegen, wenn das tatsächlich so ein faszinierendes Land sei, aber mich solle man damit nicht weiter belästigen, und Franziska sagte: »Keine Sorge«, mit gar nichts werde sie mich mehr belästigen, und sie ging zur Tür. »Ich werde dich nicht aufhalten«, rief ich ihr nach, und Franziska rief: »Gut so«, und dass mir das ohnehin nie gelingen würde, und ich rief: »Wie denn auch?«, sie sei schließlich so furchtbar unbeständig, dass man sie einfach nicht zu fassen kriege, und Franziska rief, das sage ja genau der Richtige, »der Zauderer von Oz höchstpersönlich« und »Wenigstens das hättest du doch von deinem Großvater erben können. Der wusste zumindest, was er wollte«, und ich sagte: »Ja, aber immer nur für zwei Sekunden«, und Franziska rief, das seien immerhin zwei Sekunden mehr als bei mir, und dann stürmte sie hinaus. »Ich weiß aber genau, was ich nicht will«, rief ich ihr hinterher, zum Beispiel, dass sie jetzt gehe, und Franziska drehte sich nicht wieder um, blieb nicht einmal stehen, ich sah nur von hinten, wie sie mir einen Vogel zeigte, dann verschwand sie zwischen den Bäumen, und ich hörte, wie kurz darauf die Autotür zuschlug, ich hörte, wie sie den Motor anließ, ich hörte, wie sie losfuhr, und in der Kurve quietschten die Reifen so laut, dass es nichts Gutes erahnen ließ.
    Aber ich wollte Gutes erahnen, das zumindest wusste ich.
    Und ich wollte auch, dass Franziska unrecht hatte, ich wollte, dass sie mit ihrer Einschätzung gründlich daneben lag, und dass sie das selbst zugeben müsste. Verblüfft sollte sie sein und
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