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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
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wohl in der Hoffnung, schon mit der Anrede einen beträchtlichen Teil des angeblich doch zu knappen Platzes auszufüllen, was wenig geholfen hat, denn noch immer waren gut vier Fünftel der Karte leer. Und auf einmal wollte ich diesen Leerstand nicht mehr dulden, auf einmal schien er mir mehr als ein Scheitern zu sein, denn vielleicht hatte der Platz immer gereicht, vielleicht war er sogar immer zu groß gewesen, vielleicht hatte es tatsächlich nie mehr zu sagen gegeben als »Lieber Großvater«, vielleicht wäre schon das »Lieber« übertrieben gewesen, und vielleicht hätte ich all die Karten so abschicken sollen, wie sie waren, weil das immerhin den Gegebenheiten entsprochen hätte, aber nun hatte ich es mit anderen Gegebenheiten zu tun, mit abgeschlossenen, mit übersichtlichen, und ich nahm einen Stift und schrieb unter die Anrede
    du bist tot.
    Meine Schrift hatte sich in den Jahren zwischen den beiden Zeilen kaum verändert, damals hatte ich einen schwarzen Stift benutzt, nun einen blauen, weitere Unterschiede gab es nicht.

Ich schrieb noch
    Viele Grüße,
Keith
    und starrte dann lange auf die sechs neuen Worte. Mehr würden es nicht werden.

In den ersten Tagen unter dem Schreibtisch hatte das Telefon so gut wie nie geklingelt, nun hörte es fast gar nicht mehr damit auf, andauernd ertönte meine eigene Stimme auf dem Anrufbeantworter, andauernd hielt ich den Atem an, weil ich mir auf einmal nicht mehr sicher war, ob das Gerät nicht vielleicht doch alle Geräusche übertrug, und weil ich fürchtete, mein Versteckspiel könnte durch so einen dummen technischen Fehler auffliegen.
    Jetzt war es Franziska. Vor zehn Tagen schon hatten ihre Anrufe begonnen, damit war zu rechnen gewesen. »Ich bin es.
    Wo steckst du?«, »Franziska hier, ruf mich bitte zurück!«, »Du bist doch wohl nicht wirklich in China?«, »Hallo? Ach, Scheiße«, manchmal sagte sie auch gar nichts, man hörte nur ihre Schritte, auf Parkett, auf Linoleum, auf Kopfsteinpflaster, so eilig, dass sie nur von Franziska stammen konnten.
    »Das wird langsam albern«, sagte sie diesmal und fügte dann etwas leiser hinzu: »Ich muss dich dringend sprechen, Keith.«
    Franziska hatte mich nie zuvor mit meinem wirklichen Namen angesprochen. Das war das Erste gewesen, was sie mir versprach, das Erste, was sie überhaupt jemals zu mir sagte.
    »Das ist Franziska. Ihr werdet euch jetzt öfter sehen«, hatte mein Großvater gesagt, als er sie zum ersten Mal mit zum Abendessen brachte, und wir versuchten uns ihren Namen zu merken, auch wenn wir uns über das »öfter« bei Großvaters Frauen nie ganz sicher sein konnten. Franziska ging reihum den Tisch entlang und gab jedem von uns die Hand. »Keith«, sagte ich, als sie zum Schluss bei mir angekommen war. »Echt?«, fragte sie, ich nickte, und Franziska strich mir Anteil nehmend über den Arm. »Ich werde dich nie so nennen.«
    Von da an nannte sie mich » Kapunkt «, manchmal »Mich, wenn sie mich ärgern wollte, hin und wieder auch »Dingens«, was sie lustiger fand als ich. Und als sie nun »Ich muss dich dringend sprechen, Keith« sagte, erschreckte mich das gebrochene Versprechen mehr als das, was da angeblich so dringend sein könnte. Die Frau aus dem Krankenhaus hatte schließlich auch etwas von »dringend« gesagt, und auch meine Geschwister sagten andauernd »dringend«, »Das brauche ich dringend wieder«, »Das Auto sollte dringend in die Werkstatt«, »Du musst dich wirklich dringend melden, sobald ihr in China angekommen seid«, aber in all dem Unübersichtlichen konnte ich einfach nicht ausmachen, was davon tatsächlich dringend war, was davon sehr dringend war, was davon sogar unaufschiebbar war und was, wenn ich nur lang genug wartete, vielleicht schon weniger dringend sein würde, weil es dann ohnehin schon zu spät war.
    Und je länger ich mein Versteck unterm Schreibtisch bewohnte, desto größer wurde die Versuchung, doch einmal den Hörer abzunehmen, »Hallo Franziska« zu sagen, »Ja, jetzt bin ich wieder zurück« zu sagen oder sogar: »Nein, ich bin nicht wieder zurück, weil ich nämlich nie woanders war.« Es täte in dieser Unübersichtlichkeit gut, mal kurz mit jemand anderem zu sprechen als mit mir selber, es täte auch gut, endlich einmal wieder die Wahrheit zu sagen, aber dieser Versuchung durfte ich nicht nachgeben, allzu leicht steigert man sich da sonst hinein, und dann fliegt alles auf oder bricht zusammen, und einen Moment lang wäre ich wohl erleichtert, bevor mir klar
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