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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China
Autoren: Tilman Rammstedt
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nicht erleichtert, natürlich war nichts geordneter, nun, da sie offenbar fort war, denn das Durcheinander mit Franziska war noch recht übersichtlich, verglichen mit all dem, was ich von meiner Familie gewohnt war, und am nächsten Tag zog ich dann das kürzeste Streichholz und mein Großvater sagte: »China«, und von Übersicht konnte keine Rede mehr sein.
    Wenn man, was selten ratsam war, den Erzählungen meines Großvaters Glauben schenkte, war Franziska immer schon schnell gewesen. Sechs aufeinander folgende Jahre, so behauptete er, war sie Jugendmeisterin im Sprint, irgendein Rekord in ihrer damaligen Altersklasse sei bis heute ungebrochen. Ich wusste nicht, ob das wirklich stimmte, konnte es mir aber gut vorstellen.
    Von Anfang an ging es ihr angeblich nicht rasch genug, zwei volle Monate ist sie zu früh auf die Welt gekommen, lernte dennoch, laut meinem Großvater, im ersten Lebensjahr Laufen und Sprechen, Franziska wurde vorzeitig eingeschult, um dann noch zwei Klassen, ich glaube, die sechste und die elfte, zu überspringen. Mein Großvater hatte vergessen, in wie viel Semestern sie ihr Jurastudium absolviert haben soll. »Es war jedenfalls eine lächerlich kleine Zahl«, sagte er und lächelte stolz.
    Wenn ich sie selbst auf ihre Vergangenheit ansprach, wich sie meist aus. »Die ist immer schon so lange her«, behauptete sie dann, kniff die Augen ein paar Mal zusammen und wechselte das Thema.
    Der Stempel der vorletzten Postkarte meines Großvaters war nicht viel leserlicher als seine Handschrift. Ein Briefzentrum, das mir ohnehin nichts sagen würde, ein Datum, der 18. oder 19., aber auch darauf kam es nicht mehr an, zweifellos hatte er zu diesem Zeitpunkt noch gelebt, und zweifellos lebte er jetzt nicht mehr, und fast ebenso zweifellos hatte er das nicht wissen können, nichts sprach also dafür, dass auf der Karte Entscheidenderes mitgeteilt wurde als auf den zahllosen anderen. Andauernd diese Postkarten, auch früher schon, als wir noch zusammen drüben im Haus wohnten. Unfrankiert warf er sie in unseren Briefkasten, um sie dann mit einem triumphierenden »Post für dich, Keith« zu mir an den Frühstückstisch zu bringen. Selbst nach meinem Auszug ins Gartenhaus hörte das mit den Karten nicht auf, mitunter mehrfach die Woche erreichten mich welche, inzwischen ordnungsgemäß per Post verschickt, obwohl es natürlich viel einfacher gewesen wäre, sie schnell selbst bei mir einzuwerfen, aber stillschweigend hatten wir vereinbart, die paar Meter Luftlinie zwischen uns als ernstzunehmende Distanz zu betrachten. Auf den Karten waren meist Luftaufnahmen unserer Stadt zu sehen, er kaufte sie in aufklappbaren Zehnerpacks, die Perforierung war an den Rändern deutlich zu erkennen, hin und wieder entschied er sich auch für eine Kunstpostkarte, zerfließende Uhren oder Schwarz-Weiß-Fotografien von nackten Rücken oder bekleideten Wäscheleinen. Ich machte mir nicht jedes Mal die Mühe, sie zu lesen.
    Es waren aber nicht nur die Karten, die mir bei meinen Geschwistern den zweifelhaften Ruf des »Goldjungen« einbrachten. Als »Großvaters Liebling« beschimpften sie mich, als »Stammhalter« und »Augenstern«. Mir selbst war die jahrelange Bevorzugung meist unangenehm. Zuvor hatte bei uns eine Art doktrinärer Gerechtigkeit geherrscht, deren Einhaltung im besten Fall ermüdend, im schlimmsten Fall gesundheitsgefährdend war. Zu Weihnachten bekamen wir alle exakt das Gleiche geschenkt, zu den Geburtstagen ebenfalls, obwohl es sich in dieser Zeit ohnehin, um selbst zwischenzeitliche Bevorzugungen zu vermeiden, nur noch um einen, den so genannten »Familiengeburtstag« handelte, der in größtmöglichem Abstand zum Weihnachtsfest auf den 24. Juni gelegt worden war. Gegen eine einheitliche Kleidung wehrten wir uns erfolgreich, aber dennoch achtete mein Großvater genau darauf, dass unsere Garderoben aus derselben Anzahl von Teilen bestanden und, so gut sich das bewerkstelligen ließ, gleich teuer waren, die Preisdifferenz wurde den Benachteiligten umgehend ausgezahlt.
    Unangenehm wurde es, als meine jüngere Schwester ihre ersehnten Ballettstunden gewährt bekam und wir daraufhin alle am Unterricht teilnehmen mussten. Noch unangenehmer war die langwierige Mittelohrentzündung meines zweitältesten Bruders, bei der die Antibiotika gerecht unter uns aufgeteilt wurden. Zu Knochenbrüchen kam es in dieser Zeit glücklicherweise nicht.
    Doch je älter wir wurden, desto heftigeren Widerstand leisteten wir gegen die
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