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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
Autoren: Paula Fox
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Dann huschte er plötzlich davon.
    Einige Stunden später betrat ich das luxuriöse Heim der Cohens. Dennis, Kay und ihre Gäste unterhielten sich leise im Wohnzimmer; ich nahm an, das gemessene Tempo des Gesprächs war dem Respekt vor dem Alter des Gastgebers geschuldet, doch ich irrte mich. Die meisten formellen Dinnerpartys begannen so, wie ich in den folgenden Jahren lernte, und die Gespräche waren meist zäh und langsam, weil die Gäste hin- und hergerissen waren zwischen dem Hunger nach Essen und Gesellschaft und dem Überdruß eben daran. In einem unerwarteten Moment der Stille erwähnte ich, daß ich am Nachmittag den Film von Dreyer gesehen hatte. Von ihrer Aufmerksamkeit ermutigt, erzählte ich die Geschichte von Tag des Zorns mit einer Intensität nach, die mir hinterher höchst peinlich war, vor allem, als Dennis kommentierte: «Ich kann Filme nicht ausstehen, in denen schicksalsgeweihte junge Paare händchenhaltend über Wiesen laufen», und das im aristokratischsten Akzent und Tonfall, den ich seit meiner Ankunft in England vernommen hatte.
    Kay griff sofort ein. «Also wirklich , Dennis…», sagte sie tadelnd und linderte damit den Schmerz meiner verletzten Gefühle.
    Während meiner Zeit in Chelsea arbeitete ich ein paarmal als Modell für die britische Ausgabe von Harper’s Bazaar . Das kam meiner Arbeit für Gollancz nicht in die Quere. In der Mittagspause saß ich mit den anderen Mannequins in einem Loft und aß in Zeitung gewickelte fish and chips , die uns von mageren Jungen gebracht wurden.
    Dann stellte mich ein Mitglied des britischen Oberhauses in seiner kleinen Nachrichtenagentur an. Ich sollte als Korrespondentin zuerst nach Paris und dann nach Warschau gehen. Das wurde mein letzter Job in England und, wie sich herausstellte, überhaupt in Europa.
    Kay lieh mir einen pelzgefütterten Tweedmantel, den ich in diesem Winter in Paris bereits gut gebrauchen konnte, wo ich ungefähr einen Monat verbringen sollte. In Warschau, wo ich über die ersten Wahlen seit Kriegsende berichten sollte, rettete er mir das Leben. In fremden Kleidern – wie so oft.
    Als ich vor dem Polenaufenthalt nach England zurückkehrte, erfuhr ich von Benn, daß Kay ihr Medizinstudium beendet hatte und dann zum Skiurlaub in die Schweiz gefahren war. Dort hatte sie sich eines frühen Morgens in dem Chalet, das sie gemietet hatte, das Leben genommen. Wie oder aus welchem Grund, habe ich nie erfahren.

    Als ich noch bei Benn und Cummings wohnte, verbrachte ich einen Abend mit Derek, einem Freund, in der Wohnung von Beatrix Lehmann am Themseufer. Als wir eintrafen, legte sie gerade eine Platte auf. Sie flüsterte uns zu, das sei Benjamin Brittens Liederzyklus, gesungen von Peter Pears. Zu den Liedern gehörten ein vertontes Gedicht von William Blake, «O rose thou art sick», und ein Grabgesang aus dem vierzehnten Jahrhundert, «This ae night». Schon beim Hören verfolgte mich das Lied, wie auch heute noch: Peter Pears’ Stimme wie ein Dornenstich, die strengen und ungewohnten mittelenglischen Worte des vierzehnten Jahrhunderts.
    Beatrix war Schauspielerin. Ihr Bruder John war Dichter und Essayist und gab ein bekanntes Literaturmagazin heraus. Die dritte im Kreise der Geschwister war die Romanschriftstellerin Rosamund Lehmann.
    Beatrix war gerade von einer Theatertournee durch Deutschland zurückgekehrt. Die Schauspieltruppe bereiste die Städte, in denen britische Truppen stationiert waren, und wurde mit dem Bus von Stadt zu Stadt gefahren.
    In den Ruinen von Berlin, schwor Beatrix, hatte sie einen kleinen, staubigen Mischlingshund gesehen, der aus einem riesigen Haufen rußgeschwärzter Trümmer und Steine hervorkrabbelte und sich dann unter die Räder des Busses stürzte.
    Sie sah mich durchdringend an. «Selbstmord eines Hundes in Berlin», intonierte sie.
    Das Totenlied, das ich gerade gehört hatte, die Geschichte des Straßenhundes, die intensive Atmosphäre im Zimmer, all das erfüllte mich mit einem geheimnisvollen Glücksgefühl, einer Vorfreude auf mein kommendes Leben.

    Meine beiden letzten Wochen in London verbrachte ich in St. John’s Wood bei Claude, einem Journalisten, und seiner Frau Pat, einer irischen Adligen ohne einen einzigen echten Zahn im Mund.
    Sie hatte ihre Kindheit in einem Schloß im nördlichen Irland verbracht, wo es dunkel, feucht und kalt war. Ihre Familie konnte sich keinen Zahnarzt leisten, weshalb ihre zweiten Zähne verfault waren. Doch sie war attraktiv und charmant, und ihre
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