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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
Autoren: Paula Fox
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war. Ich erinnere mich, wie wir vier im Taxi saßen, aber nicht mehr, wo wir uns vorher getroffen hatten. Wir fuhren in einen Nachtclub, das Café Society Uptown, um eine französische Chanteuse namens Lucienne Boyer zu hören. Wir unterhielten uns, aber ich kann mich nicht eines Wortes entsinnen, das ich gesagt haben könnte. Doch ich muß geredet haben, denn ich erinnere mich deutlich, wie Robeson mich ansieht und lächelnd zu mir spricht. Ich warf einen raschen Blick auf seine Hände. Jemand hatte mir erzählt, als er im Footballteam der Rutgers University spielte, hätten seine eigenen Mannschaftskameraden ihm beim Training absichtlich auf die Hände getreten.
    Der Türsteher des Clubs und der Oberkellner, der uns im schattigen Foyer entgegeneilte, erkannten Robeson beide, und auf seine Bitte wurden wir in ein Séparée mit Balkon geführt, das oberhalb des eigentlichen Gastraumes lag. Lucienne Boyer sang bereits auf französisch, als wir uns setzten. Sie stand im goldenen Kleid in einem Lichterregen. Einige Lieder sang sie auf englisch; darunter auch «The Man I Love». Robeson summte mit und erfüllte unsere kleine Loge mit seiner klangvollen Stimme, während die unten Sitzenden nichts davon hören konnten. Auf einmal forderte er mich flüsternd auf, ebenfalls zu singen. Ich brachte ein paar zittrige Zeilen hervor, verstummte dann aber wieder, denn der Gedanke, mit Paul Robeson zu singen, überwältigte mich. Nun ja – beinahe zu singen.
    Hinterher fuhren wir gemeinsam zur Grand Central Station, von wo aus Pauli mit dem Zug zu seiner Schule zurückfuhr. Es muß fast Mitternacht gewesen sein. In jenen Tagen waren Bahnhöfe um diese Zeit oft menschenleer. Als wir die breite Treppe hinabgingen, hallten unsere Schritte durch das riesige Bahnhofsgebäude, in dem nicht ein einziger Nachzügler zu entdecken war, der zum letzten Zug nach Hause eilte. Als wären wir vier allein.
    Dann kamen auf einmal aus allen Ecken des Bahnhofs lautlos wie Schwalben die Gepäckträger mit ihren roten Mützen herangeflogen und scharten sich am Fuß der Treppe um Robeson und seinen Sohn. Er blieb einen Augenblick in ihrer Mitte stehen, redete und hörte zu, lachte über eine Bemerkung eines der Träger. Hier endet meine Erinnerung – Robeson lachend auf einer Treppenstufe, den Kopf zurückgeworfen, sein Sohn neben ihm, einer der Gepäckträger gestikuliert in Richtung des Bahnsteigs, als würde Paulis Zug gleich abfahren, und sie müßten sich beeilen, ihn noch zu erwischen.
    Nun, da ich älter werde, sehe ich die Vergangenheit in anderem Licht, in gewissem Sinne verändert sich also die Vergangenheit. Früher dachte ich, die starken Gefühle, die Dramatik des Abends hätten ihn so denkwürdig gemacht.
    Heute frage ich mich, ob ich nicht einen ungeheuren Trost in Robesons Anwesenheit spürte, der sich möglicherweise auf den Gesichtern der Gepäckträger spiegelte. Ich weiß es wirklich nicht.

W ie ich mir die Überfahrt verdiente
    E iner nach dem anderen tauchten wir aus einem runden Loch im Boden auf, Kellner wie Kellnerinnen, beladen mit Tabletts voller Speisen und Getränke für die Gäste eines Ferienhotels in den Catskills. Es war Frühsommer 1946. Mein linker Arm war von den Tetanus- und Typhusimpfungen schmerzhaft angeschwollen, die mir ein Arzt wegen meiner bevorstehenden Atlantiküberfahrt nach Southampton in England verabreicht hatte.
    Um mich von den Schmerzen im Oberarm abzulenken, stellte ich mir manchmal die Trinkgelder vor, die ich nach dem Essen zwischen benutzten Gläsern, Desserttellern und überquellenden Aschenbechern auf den fleckigen Tischtüchern finden könnte. Wer mir am Ende seines Aufenthalts und nicht täglich seine Anerkennung zukommen ließ, drückte mir am letzten Tag taschenwarme Dollarnoten in die Hand.
    Die unterirdische Küche, aus der wir die Speisen und Getränke holten, war mit der oberen Welt durch eine kurze Wendeltreppe verbunden. Im Kreis hinaufzusteigen und dabei ein schweres Tablett zu balancieren war keine leichte Übung; manchmal fiel ein Tablett nach unten. Porzellan zerschellte, Flüssigkeiten spritzten, Essen klatschte in unappetitlichen Brocken auf den Boden, die Tabletts und Wärmehauben aus Metall schepperten laut und ließen die folgende Stille nur noch tiefer erscheinen, die jedoch bald von unseren tröstenden Rufen und Mitleidsbekundungen für den Betroffenen gebrochen wurde, der jetzt unglücklich in die Tiefe starrte.
    Zum Speisesaal waren es etwa dreißig Meter über den
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