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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
Autoren: Paula Fox
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falschen Zähne strahlten tapfer, denn sie lächelte oft. Claude hatte jahrelang für die Times geschrieben. Im Krieg war er mehrmals mit dem Fallschirm über dem besetzten Frankreich und Belgien abgesprungen, um sich mit abgesetzten Bürgermeistern oder Mitgliedern des Widerstands zu treffen. Nach dem Krieg arbeitete er für die kommunistische Zeitung The Daily Worker .
    Pat und Claude waren sich auf einer Dinnerparty begegnet. Sie waren beide anderweitig verheiratet, verliebten sich aber sofort ineinander, erzählte mir Pat. Sie hatte Geld und nahm Claude, der damals heftig trank, mit auf eine Safari nach Afrika. Er kehrte trocken zurück. Auf ihrer Reiseroute hatten keine Bars gelegen.

    Claude zeigte mir eine Postkarte, die George Bernard Shaw an seine Zeitung geschrieben hatte. Es war eine Art Entschuldigung für die Fehler in einem Artikel, den er für sie geschrieben hatte. «Shaw mit neunzig!» schrieb er. «Wie traurig!» Ich berührte seine Unterschrift, als wäre es sein Gesicht.
    Claude war Geschichtenerzähler, wie mein Vater einer gewesen war. Eine seiner Anekdoten drehte sich um seine Bemühungen, die Adressen und Decknamen aller Menschen zu behalten, die er bei seiner Arbeit als Kriegskorrespondent der Times traf. Ein Notizbuch nach dem anderen ging verloren. Schließlich begann er, die Wände seines Arbeitszimmers mit den Namen europäischer Exilpolitiker, Untergrundkämpfer und wegen der deutschen Besatzung arbeitsloser Journalisten vollzuschreiben. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch zerstörte eine V2 zwei Wohnungen und Claudes Arbeitszimmer. Zum Glück waren weder Pat noch er zu Hause, als die Rakete sein ausführliches Adreßverzeichnis zertrümmerte.
    Eine andere Geschichte drehte sich um einen alten Mann, der einen Raketenangriff auf London überlebt hatte. Die Luftschutzhelfer entdeckten ihn in einem Hohlraum unter Trümmern begraben, in seiner Badewanne sitzend. «Aber ich habe doch bloß den Stöpsel rausgezogen», verteidigte er sich, als die Retter zu ihm gelangten. Ich hörte die gleiche Geschichte später von jemand anderem und schloß daraus, daß es sich um eine verbreitete Legende handelte.
    An einem Samstagvormittag nahm Pat mich mit zu einer Matinee im Old Vic, wo Laurence Olivier als König Lear zu sehen war. Wir saßen in der ersten Reihe, und als der alte Lear mit seinem Narren auf der sturmgepeitschten Heide Schutz suchte, erspähte ich gleich hinter dem Vorhang einen Bühnenarbeiter, der gegen ein großes Blech schlug, um Donner zu erzeugen. Doch dieser Anblick schwächte die Illusion der Bühne keineswegs, sondern verstärkte sie für mein Gefühl noch.
    In der ausgedehnten Pause hörte ich Porzellan klirren, und als ich mich umdrehte, sah ich die Platzanweiser mit Tabletts durch die Gänge huschen. Uns sollte Tee serviert werden. Vielleicht machten die Schauspieler hinter der Bühne ebenfalls Teepause.

    Als ich während dieser Zeit eines Morgens am Hyde Park vorbeilief, um bei Gollancz ein Manuskript abzuholen – auch nachdem mich der Lord für seine Nachrichtenagentur angeheuert hatte, las ich noch ab und zu für den Verlag –, erblickte ich Erstaunliches. Es kam mir vor, als habe sich Birnams Waldung gleich neben dem Park erhoben und bewegte sich auf dem Gehweg auf mich zu: Ein Häuflein Männer trug und schob einen betrunkenen Winston Churchill. Er weinte, und Wimperntusche sammelte sich unter seinen Augen, bevor sie ihm über die feisten Wangen rann. Claude erzählte mir später, Churchill habe so helle Wimpern, daß er sie bei gefilmten Interviews immer tuschen lasse. Die Neigung des edlen Staatenlenkers zum Alkohol kommentierte er jedoch nicht.

    Am nächsten Morgen traf ich mich mit Sir Andrew, dem Lord. Die anderen Menschen, die für ihn arbeiteten, erklärte er mir, hätten alle neben den sehr kleinen Gehältern, die zu zahlen er in der Lage sei, private Einkünfte, von denen sie leben könnten. Womöglich würde er mir ein bißchen mehr zahlen. Er sagte mir, ich solle an der Friedenskonferenz teilnehmen, die im Palais du Luxembourg stattfinden werde. «Und freunden Sie sich mit dem Arbeitsattaché der amerikanischen Botschaft an», fügte er hinzu. Dann drückte er mir ein Zugticket für die Reise nach Frankreich in die Hand, ein Platz in der dritten Klasse im Flèche d’Or, der mich nach Paris bringen würde.
    Sir Andrew war Privatmann, so viel war mir klar. Neben dem sichtbaren Äußeren – dem gleichen Anzug aus dicker, schwarzer Wolle, den er schon
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