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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
Autoren: Paula Fox
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die Wendeltreppe des Ferienhotels in den Catskills denken, an U-Bahn-Treppen, in die das alltägliche Leben getreten wird, an den Beton der Bahnsteige mit Flecken aus plattgedrücktem Kaugummi, an die schmale Treppe in Nans Wohnung in Wandsworth und an den Geschmack, die Heuchelei, die Habgier und die Notwendigkeit, die sich in all diesen Stufen manifestierte.
    An meinem ersten Morgen bei den Levys wurde ich von einem Klopfen an der Tür geweckt, worauf eine Bedienstete eintrat, die mir auf einem Tablett Tee, Toast und einen Teller mit einem getrockneten Fisch darauf brachte. Der Fisch sah aus wie eine Mumie; ich brachte einen kleinen Bissen davon herunter, dann ließ ich ihn liegen.

    Den großen Garten teilten sich Benn und Cummings mit einem weiteren architektonischen Schmuckstück, das der Verleger Dennis Cohen mit seiner amerikanischen Frau Kay bewohnte. Dennis erinnerte mich an George Arliss, einen älteren Schauspieler jener Tage. Kay war Jahrzehnte jünger und in Amerika Revuetänzerin gewesen. Doch inzwischen, verriet mir Benn, studierte sie Medizin und wollte Ärztin werden. Im Jahr 1946 gab es noch nicht viele Ärztinnen in London.
    Benn sprach von Anfang an mit einer gewissen Intimität zu mir, die gleichzeitig nach Onkel und nach Liebhaber klang. Er hatte eine lockere, irgendwie reizende Art. Einmal kam er oben ins Bad, als ich gerade meine Unterwäsche im Waschbecken wusch. Mit dem Anflug eines Lächelns blieb er in der Tür stehen und sagte: «Wäschst deine Höschen, was?» Sein Benehmen war charmant, leicht verführerisch, und das, wie ich beobachtete, gegenüber Frauen jeden Alters. Bei einer Party in seinem Haus setzte er sich ans Klavier, spielte und sang souverän den Varieté-Schlager «Hard-Hearted Hannah».
    Als Benn einmal ein paar Tage verreiste, erzählte mir Cummings, er sei mit Larry Olivier nach Irland gefahren, um «ein gepflegtes englisches Frühstück» einzunehmen. Ich war erstaunt, daß Laurence Olivier tatsächlich frühstückte; mir erschien er als einer jener Unsterblichen, die keiner irdischen Nahrung bedurften.
    Die Levys gehörten einem Londoner Club an, über dessen Kanäle sie mit frischem Obst und Gemüse beliefert wurden, das in den Zeiten der Knappheit und Rationierung nur schwer zu bekommen war.
    Sie lebten stilvoll, mit teuren, aber zurückhaltenden Möbeln und Einrichtungsgegenständen, an denen der Blick nicht hängenblieb. Benn war ein spielerischer Mensch; beide waren manchmal spitzfindig, aber nur Cummings konnte mich mit dem Klang ihrer Stimme einschüchtern. Sie war kühl, moderat, ohne Tiefe.
    In diesem Ton erzählte sie mir bei einem Mittagessen in Soho vom Tod eines Drehbuchschreibers aus Hollywood, Vincent Lawrence. Auch er war ein Freund meines Vaters, der Theaterstücke verfaßt hatte, bevor er nach Kalifornien ging. Ich hatte Vin geliebt, zum Teil wegen seines Beschützerinstinktes mir gegenüber, und hörte auf zu essen. Sie redete weiter, sprach mit ihrer Freundin, die uns begleitet hatte, über irgendein triviales Thema.
    Eines Abends nahm sie mich mit hinter die Bühne, nachdem wir ein Stück über die Eheprobleme der Mittelschicht gesehen hatten. Cummings und die Schauspieler sprachen über das «Dienstbotenproblem», und ihr Tonfall kam mir albern und affektiert vor, als sie alle versuchten, sich gegenseitig mit Anekdoten über die Unfähigkeit und Schlamperei ihrer Hausangestellten zu überbieten. Diese Schwierigkeiten waren recht neu für diejenigen, die sich Bedienstete leisten konnten. Die Fabrikarbeit hatte den Leuten eine Wahlmöglichkeit gegeben, einen Hauch von Freiheit gegenüber dem Dienstbotendasein.
    In Kay Cohens Gesellschaft fühlte ich mich wohler. Eines Abends lud sie mich zu einer Dinnerparty ein. Den Nachmittag verbrachte ich im Kino und sah mir Carl Dreyers Tag des Zorns an. Mein Kopf war voll von der schwebenden Schönheit und Brutalität des Films. Als ich im grauen Dämmerlicht durch die grauen Straßen Chelseas heimwärts lief, folgte mir ein kleiner, finster aussehender Mann mit einer Mütze. London war noch nicht so überfüllt wie heute, und bis auf die eine oder andere vorübereilende Gestalt waren wir allein. Er ließ sich zurückfallen, kam wieder näher, überholte mich einmal auf einer Treppe, drehte sich dann um und starrte mit irrem Blick auf mich herab, wie eine Ratte aus einem Baum. Ich rannte an ihm vorbei, immer noch im Bann der bedrohlichen Atmosphäre des Films, aber er grinste mich nur an. Er hatte gewonnen!
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