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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
Autoren: Paula Fox
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Victor Gollancz, für den ich ebenfalls Manuskripte las, für jeweils ein bis zwei Pfund. Er stellte mich nicht nur an, weil er meinen Vater gekannt hatte, als dieser in England lebte, sondern auch, weil seine eigentliche langjährige Gutachterin von einem durchgedrehten Iren angegriffen worden war, dessen Bearbeitungen nordirischer Sagen um den Helden Cúchulainn sie nach Lektüre der ersten Seiten abgelehnt hatte.
    Irgendwie hatte der Ire ihren Namen herausbekommen, fing sie auf dem Heimweg ab und verprügelte sie: Mit gebrochenen Rippen und Prellungen im Gesicht mußte sie ins Krankenhaus eingeliefert werden. Man erwartete sie frühestens in sechs Wochen im Verlagsbüro von Gollancz zurück. Nachdem er mir das erzählt hatte, ermahnte mich Victor, niemandem zu verraten, wo und in welcher Funktion ich angestellt sei.
    Eines Nachmittags war ich allein in der Wohnung in Wandsworth und las ein Manuskript, als es laut an der Tür klopfte. Ich schaute durch den Briefschlitz und sah dunklen Stoff. Mit einem flauen Gefühl im Magen öffnete ich die Tür. Ein Bobby ragte vor mir auf, oder vielleicht wirkte es auch nur wegen seines Helms so. Er legte zwei Finger an die Krempe, sprach mich mit Miss an und fragte, ob ich eine Arbeitserlaubnis besäße. Ich schüttelte den Kopf. Er sagte, dann müsse ich mit ihm aufs Revier kommen.
    Dort füllte ich ein Formular aus, in dem ich eidesstattlich versicherte, keine Stellung anzutreten, die auch ein britischer Staatsbürger ausfüllen konnte, und außerdem nur Teilzeitarbeit anzunehmen. Ich hatte davon gehört, daß man eine Arbeitserlaubnis brauchte, diese Erfordernis aber nicht ernst genommen. Vielleicht hatte ich auch mich selbst nicht ernst genommen. Eine Minute lang grübelte ich über die schemenhafte Natur der Realität nach; daß man sich immer wie durch einen Nebel bewegt und ständig darüber nachdenkt, was als nächstes kommt, und wie undurchdringlich die Gegenwart ist.
    Ernüchtert machte ich mich auf den Rückweg nach Wandsworth. Der Wohnblock war vier Stockwerke hoch, und in jedem Stock lief eine offene Galerie vor den Wohnungen entlang.
    Einbrechende Dämmerung verdunkelte die Stufen, die ich hinaufstieg. Ich hielt die Arbeitserlaubnis in der Hand, und ihre Bedeutung tröstete mich: Die Regierung schützte ihre Bürger und nahm meine Anwesenheit in England ernst.

    Mit dem Bus der Linie 19 fuhr ich nach Chelsea, wo Benn Levy, der Freund meines Vaters, in einem von den bekannten Architekten Walter Gropius und Maxwell Frey entworfenen Haus in der Old Church Street lebte. Er war mit der amerikanischen Schauspielerin Constance Cummings verheiratet, die er immer nur beim Nachnamen nannte. Ich sollte einige Wochen bei ihnen verbringen.
    Benn war Dramatiker und saß für die Labour Party im Parlament. Ersteres sagte mir etwas, das zweite nicht viel. Von der Geschichte des britischen Parlaments wußte ich fast nichts, obwohl mir immerhin die Trennung in Oberhaus und Unterhaus bekannt war.

    Eines Abends kam Aneurin Bevan, der Gesundheitsminister und Vorsitzende der Labour Party, zu Besuch, als ich ebenfalls da war. In dem kurzen Augenblick des Einander-vorgestellt-Werdens, bevor ich mich entschuldigte und zurückzog, spürte ich eine graue Präsenz, die mich intensiv musterte, wenn auch mit leerem Blick. Er war in Begleitung zweier kleinerer Männer, die ihre Regenmäntel nicht ablegten, jedenfalls nicht, solange ich im Zimmer war.
    Ich hatte ein kleines Zimmer im Erdgeschoß, hinter einer für die damalige Zeit ultramodernen Treppe versteckt, die nach oben zu schweben schien; der Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, daß man zwischen den Stufen hindurchschauen konnte.
    Bis ich im Hause Levy wohnte, hatte mein Urteil über Menschen nie etwas mit ihren Wohnungen zu tun gehabt. Mir war nur mein eigenes Wohlbefinden oder Unbehagen aufgefallen. Eine Wohnung war ein elendes Loch – eine andere groß und verschwenderisch eingerichtet.
    Erst das von Gropius und Frey entworfene Haus in der Old Church Street ließ mich über die Einrichtungen der reichen Leute nachdenken, die ich bisher kennengelernt oder in Filmen gesehen hatte, über ihre Sorge, welche Wirkung ihr Stil auf andere haben könnte, die sich mit der Zeit unmerklich in die meiner Ansicht nach törichte Überzeugung wandelte, daß die Gegenstände, mit denen sie sich umgaben, ihren lobenswerten Charakter widerspiegelten und nicht bloß die Leichtigkeit, mit der sie ihr Geld ausgaben.
    Die luftige Treppe ließ mich an
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