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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz
Autoren: John Boyne
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ich mir. Und jeden Tag versuchte ich, nicht daran zu denken, wie sehr ich es bereute, Poppa im Stich gelassen zu haben, als er mich am dringendsten gebraucht hätte.

Kapitel 22 Noah und der alte Mann
    »Es tut mir leid, dass Ihr Vater gestorben ist«, sagte Noah, den Blick auf den Boden gerichtet. »Fehlt er Ihnen immer noch?«
    Der alte Mann nickte und sah sich im Zimmer um. »Jeden Morgen, wenn ich hier reinkomme, denke ich an ihn«, sagte er. »Beim Frühstück, wenn ich mich auf den Tag freue, der vor mir liegt. Und abends, wenn ich am Kamin sitze und ein Buch lese, stelle ich mir vor, er würde neben mir sitzen und mich behüten. Ich spüre, dass er in der Nähe ist, und ich sage ihm, wie leid es mir tut, dass ich am Schluss nicht bei ihm war.«
    Lange sagte Noah kein Wort. Er horchte auf die lauten Diskussionen in seinem Kopf und auf die verschiedenen Argumente, die er teilweise gern hörte, aber teilweise auch lieber ignorieren wollte.
    »Können wir wieder nach unten gehen?«, fragte er, stand auf und rieb sich die Arme. »Ich friere ein bisschen hier oben, und vielleicht sollte ich mich sowieso demnächst verabschieden.«
    »Ja, natürlich, mein Junge«, sagte der alte Mann, ging zu Henry und öffnete ihn. »Bitte, folge mir.«
    Im Treppenhaus traten sie kurz beiseite, damit die Tür zuerst nach unten gehen konnte, und sobald Henry sich in die untere Wand eingefügt hatte, drehten sie den Knauf und betraten den Spielzeugladen.
    »Fühlen Sie sich nicht manchmal einsam, so allein hier im Haus?«, fragte Noah und schaute sich um. Er hatte das komische Gefühl, dass manche Marionetten an einem anderen Platz waren als vorher.
    »Manchmal schon«, gab der alte Mann zu. »Aber ich bin jetzt ein alter Mann und brauche keine Gesellschaft.«
    »Wie alt sind Sie genau?«
    Der alte Mann rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ehrlich gesagt – ich habe den Überblick verloren«, sagte er. »Aber ich bin kein junger Springinsfeld mehr, so viel ist sicher.«
    »Ich wundere mich, dass Sie beschlossen haben, hier zu bleiben«, sagte Noah. »Nachdem Ihr Vater gestorben ist, meine ich. Sie hätten noch so viele Abenteuer erleben können. Sie hätten durch die ganze Welt reisen können.«
    »Aber jeder Tag ist für mich ein Abenteuer«, erwiderte der alte Mann lächelnd. »Da spielt es keine Rolle, ob ich hier bei meinen Puppen bin oder zehntausend Meilen weit weg. Es passiert immer etwas Spannendes, egal, wo man ist. Ich bin mir nicht sicher, ob du verstehst, was ich meine, aber –«
    »Doch, doch, ich verstehe«, sagte Noah. »Verkaufen Sie eigentlich je eine von diesen Puppen?«
    »O nein«, sagte der alte Mann. »Nein, sie sind nicht zu verkaufen.«
    »Sie sind nicht zu verkaufen?« Noah lachte. »Aber das hier ist ein Laden, oder?«
    »Es ist ein Ort, an dem Dinge hergestellt werden, das stimmt. Und es gibt selbstverständlich eine Eingangstür. Jedenfalls an den meisten Tagen. Und da drüben ist eine Kasse, obwohl ich nicht weiß, ob sie noch funktioniert. Heißt das, es ist ein Laden? Vielleicht, ja. Keine Ahnung. Spielt es eine Rolle? Ich bin hier zu Hause.«
    Noah dachte darüber nach, sagte aber nichts, sondern ging durch die Gänge in dem Laden, den Blick immer auf die Puppen gerichtet, als könnten sie vielleicht doch ihre Geheimnisse preisgeben. Dann holte er schließlich zwei Marionetten herunter, zwei ganz traditionelle männliche Holzpuppen.
    »Haben die auch einen Namen?«, fragte er und hielt sie hoch.
    »Ja, natürlich!« Der alte Mann strahlte. »Die in deiner linken Hand hatte meinen Vater, Poppa, als Vorbild. Die Ähnlichkeit ist wirklich groß. Und die in deiner rechten Hand – also, das war ein Nachbar von Poppa, bevor ich auf die Welt kam. Meister Kirsche. Zieh mal die Fäden, dann siehst du etwas, was dir bestimmt gefällt.«
    Noah zog an den Fäden unten an den Füßen der beiden Puppen. Ihre Arme und Beine bewegten sich, wie erwartet, aber gleichzeitig hoben sich auch – ganz toll! – die Haare von ihren Köpfen.
    »Sie tragen Perücken!«, rief er lachend.
    »Ja, so war’s – die beiden trugen immer Perücken«, erzählte der alte Mann. »Einmal haben sie sich furchtbar gestritten und hätten fast ihre Perücken verloren.«
    »Worum ging es bei dem Streit?«
    »Es war ein Missverständnis, sonst nichts.«
    »Ach so. Und waren sie danach wieder Freunde?«
    »Sehr gute Freunde sogar«, sagte der alte Mann mit zufriedener Stimme. »Und sie haben sich geschworen, bis ans Ende ihres Lebens
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