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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz
Autoren: John Boyne
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Poppa auch.
    Ich rappelte mich auf und begriff, dass es gar nicht mein Vater gewesen war: Ich hatte mich selbst in dem großen Spiegel mit dem Holzrahmen gesehen, der schon seit vielen Jahren in der Ecke des Ladens stand.
    Ich bin jetzt ein alter Mann
, dachte ich.
    Genau in dem Moment ist mir klargeworden, dass ich damals, vor vielen, vielen Jahren, die falsche Entscheidung getroffen hatte, als mir mein Wunsch, ein richtiger Junge zu werden, gewährt wurde. Ich hätte eine Holzpuppe bleiben sollen.
    Während sich dieser Gedanke in meinem Kopf einnistete, spürte ich ein komisches Kribbeln in Armen und Händen, und ich wusste, dass ich dieses Gefühl nur beruhigen konnte, indem ich zu Hammer und Schnitzeisen griff und anfing zu arbeiten. Ich ging hinunter ins Kellergeschoss, wo ich immer einen Holzvorrat aufbewahrte, doch zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass kein Holz mehr da war – zum ersten Mal in meinem ganzen Leben. Normalerweise kaufte ich meine ganzen Materialien für die Spielsachen bei einem Holzhändler in der Gegend, aber es war schon kurz vor Mitternacht, und sein Holzlager war bis zum nächsten Morgen geschlossen. Aber ich musste sofort eine Marionette schnitzen, mir blieb keine andere Wahl. Sonst konnte ich nicht schlafen. Sonst konnte ich nicht einmal atmen!
    Abb. 12 Ein SPAZIERSTOCK , nicht mehr in GEBRAUCH
    Ich trat hinaus vor den Spielzeugladen und blickte die leeren Straßen auf und ab, ließ die Nachtluft in meine Lunge dringen und überlegte, ob jemand es merken würde, wenn ich einfach über die Mauer des Holzlagers kletterte, um mir zu holen, was ich brauchte. Ich wollte das Holz ja nicht
stehlen –
am nächsten Tag würde ich alles ordnungsgemäß bezahlen. Aber kaum hatte ich diesen Gedanken gedacht, da wusste ich auch schon, dass ich ihn unmöglich in die Tat umsetzen konnte. Meine Beine waren nicht mehr die Beine, die sie früher einmal gewesen waren. Ich konnte nicht mehr über die Mauer springen, ich konnte nicht einmal hinüberklettern. (Selbst als junger Mann hatte ich über Vierhundert-Meter-Hürden ja nur die Silbermedaille gewonnen, und jetzt ging gar nichts mehr, weil ich so alt war.) Der Plan war unausführbar.
    In meiner Ratlosigkeit schaute ich zu dem Baum, der vor mir stand. Mein Blick fiel auf einen dicken Zweig. Konnte die Lösung dermaßen einfach sein? Es war fast so, als würde der Zweig mich rufen.
Nimm mich!
, sagte er.
Komm schon, brich mich ab!
    Und das tat ich dann auch.
    Ich packte den Zweig und fühlte plötzlich eine enorme Kraft in mir. Mühelos trennte ich ihn vom Stamm, und einen Moment lang blieb ich wie angewurzelt stehen und starrte auf das saubere, kompakte Stück Holz, das ich nun in Händen hielt. Dann eilte ich zurück in den Laden, schloss die Tür hinter mir, ging hinunter ins Untergeschoss und begann zu arbeiten.
    Ich wusste ganz genau, was für eine Marionette ich machen wollte. Ich sah die geraden Beine vor mir, mit einem Gelenk im Knie, das zweite Paar Füße, das Poppa für mich schnitzen musste, weil ich in meiner Dummheit nicht gemerkt hatte, wie das erste Paar verbrannte, während ich schlief. Mich an den glatten, zylindrischen Körper zu erinnern fand ich kinderleicht, ebenso an die dünnen Arme mit den einfachen Händen. Das lustige, neugierige Gesicht; die freche Nase, die immer länger wurde, wenn ich log. Es war alles da, ich hatte alles in meinem Gedächtnis gespeichert. Ich konnte es schaffen. Immerhin war ich ein sehr guter Holzschnitzer, und bis jetzt hatte mich noch nie ein Projekt überfordert.
    »Wenn ich es richtig mache …«, sagte ich mir, während ich schnitzte. »Wenn ich ihn perfekt hinkriege, dann kann es sein – ja, könnte es sein, dass …«
    Und lange sah es so aus, als würde es klappen. Die Beine
sahen aus
wie die richtigen Beine; der Körper
sah aus
wie der richtige Körper; das Gesicht
sah aus
wie das richtige Gesicht. Aber als ich mit dieser ersten Marionette fertig war und einen Schritt zurücktrat, staunte ich sehr über das, was ich sah. Auf rätselhafte Weise hatte sich die Marionette in einen Fuchs verwandelt – es war der Fuchs, den ich genau kannte, der Fuchs, der mich vor vielen, vielen Jahren überredet hatte, meine fünf Goldmünzen auf dem Feld der Wunder zu vergraben, sie zu gießen und dann ein paar Stunden wegzugehen, damit sie sich in meiner Abwesenheit in fünftausend Goldmünzen verwandeln konnten. Der Fuchs, der mich bestohlen hatte, weil ich so ahnungslos war.
    »Aber wie
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