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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz
Autoren: John Boyne
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ist das passiert?«, fragte ich mich kopfschüttelnd. Ich nahm mir vor, mich am nächsten Abend stärker auf meine Arbeit zu konzentrieren. Dann würde ich mit Sicherheit die perfekte Marionette schnitzen.
    Von da an versuchte ich jeden Abend, eine hölzerne Version meines früheren Selbst zu schaffen, aber wenn ich fertig war und mir anschaute, was ich gemacht hatte, war es jedes Mal eine ganz andere Marionette. Zum Beispiel ein Bahnhofsvorsteher. Oder eine trauernde Witwe. Eine Frau, die an einem Schreibtisch sitzt und für ihren Geliebten, der auf See geblieben ist, ein Sonett schreibt. Eine Feder, die vom Wind davongetragen wird. Ein Klavier, das gestimmt werden muss. Die Statue des Zeus von Olympia. Charles Lindbergh, wie er mit der
Spirit of St Louis
abhebt. Es spielte dabei keine Rolle, wie die Marionette am Anfang aussah und wie konzentriert ich daran arbeitete – am Schluss kam immer etwas völlig anderes heraus, etwas komplett Unerwartetes.
    Und jeden Abend brach ich wieder einen Zweig von dem Baum ab und begann von neuem. Und nach ein paar Tagen war der Zweig am Morgen wieder nachgewachsen.
    So geht das jetzt schon seit vielen Jahren. Ich habe den Laden mit den Marionetten ausgestattet, die meine Hände aus Poppas Baum geschnitzt haben, und dabei bin ich älter geworden, immer älter, bis ich schließlich begriffen habe, dass meine Bemühungen vergeblich sind.
    Ich habe mich damals entschieden. Ich bin ein richtiger Junge geworden, und ich kann nie wieder eine Holzpuppe sein.
    Und wie Dr. Wings so treffend sagte – ein richtiger Junge wird ein richtiger Mann, und ein richtiger Mann wird ein richtiger alter Mann, und dann –

Kapitel 24 Noah und der alte Mann
    »Ich weiß, was dann kommt«, sagte Noah mit gesenktem Blick. Er spürte, wie sein Herz in der Brust ein bisschen schneller zu schlagen begann.
    »Ja, das glaube ich dir«, sagte der alte Mann und lächelte dem Jungen zu. Seine freundlichen Augen gaben Noah ein Gefühl der Geborgenheit. »Meinst du nicht, es ist jetzt Zeit, nach Hause zu gehen? Damit du bei deiner Mutter bist, solange du noch kannst?«
    Noah stand auf. Er war müde und verwirrt. Was für ein Tag. So viele Überraschungen, so viele Abenteuer. Er hatte alle möglichen Leute kennengelernt und erstaunliche Dinge erlebt, und jetzt wünschte er sich nichts sehnlicher, als alles, was er erlebt hatte, jemandem zu erzählen. Jemandem, den er liebte.
    »Ich hätte gern einen Spielzeugladen«, sagte er nach einer Weile mit einem begeisterten Ausdruck auf dem Gesicht. »Es ist bestimmt toll, in einem Laden wie Ihrem zu arbeiten.«
    »Ich dachte, du willst Astronom werden«, sagte der alte Mann.
    »Das ist nur einer von den Berufen, die ich mir überlege«, sagte Noah. »Vielleicht ist er gar nicht der richtige für mich. Die Sache ist die – ich mag Spielsachen sehr gern. Und ich kann sehr gut mit Holz umgehen. Vielleicht finde ich mal einen Job wie Ihren.«
    »Kann sein«, sagte der alte Mann und schaute zu Alexander, der Uhr. »Meine Güte, ist es schon so spät?«, rief er. »Bald ist es Zeit fürs Abendessen.«
    »Aber wir haben doch gerade erst zu Mittag gegessen«, sagte Noah. Er konnte unmöglich schon wieder etwas essen, sonst würde er sofort platzen.
    »Und die Sonne geht unter.« Der alte Mann schaute aus dem Fenster und zum Himmel hinauf, der langsam schon dunkelblau wurde, und am Horizont ballten sich ein paar schwarze Wolken. »Ich muss demnächst mit meinen sportlichen Aktivitäten beginnen.«
    »Heißt das, Sie laufen immer noch?«, fragte Noah erstaunt. Wenn man den alten Mann anschaute, konnte man sich kaum vorstellen, dass er schnell rannte. Schon allein, weil er ein bisschen buckelig war, und auf der Treppe hatte er sich auch nur in einem sehr gemäßigten Tempo vorwärtsbewegt.
    Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein, nein – laufen kann ich nicht mehr. Aber ich mache jeden Abend einen Spaziergang. Einfach nur durchs Dorf, mehr nicht. Um ein bisschen frische Luft in die Lunge zu bekommen und um den Kreislauf in Schwung zu bringen. Vielleicht hast du Lust, mich heute Abend zu begleiten?«
    Noah schaute auf die Uhr. Er hatte geplant, dass er von zu Hause weggehen würde, um ein Dorf zu suchen, das ihm gefiel. Weiter hatte er nicht gedacht. Und nachdem er jetzt das Dorf gefunden hatte, wusste er gar nicht, was er als Nächstes tun sollte. »Ja, gern«, sagte er und nahm seine Jacke von dem Garderobenständer, der genau im richtigen Moment angerannt kam.
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