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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz
Autoren: John Boyne
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»Wahrscheinlich würde mir ein Spaziergang guttun, weil ich so viel gegessen habe, aber danach muss ich mich wirklich auf den Weg machen.«
    »Ja, natürlich«, sagte der alte Mann und nahm ebenfalls seinen Mantel und seinen Schal vom Garderobenständer. »Vielen Dank, William«, sagte er zu dem Ständer. Dieser nickte mit dem Kopf, an dem die Hüte hingen, und rannte wieder zurück in die Ecke des Spielzeugladens. »Ein Junge, der von zu Hause wegläuft, muss immer in Bewegung bleiben. Er kann nirgends haltmachen, weil er sonst womöglich gefunden wird. Und wenn er irgendwo zu lang bleibt, dann läuft er Gefahr, Freundschaften zu schließen.«
    »Ich könnte bestimmt
irgendwo
haltmachen«, erwiderte Noah schnell. »Nach einer Weile hören sie auf, mich zu suchen.«
    »Ach, mein lieber Junge«, erwiderte der alte Mann und lachte leise. »Wenn du das denkst, dann kennst du deine Eltern aber schlecht. Sie werden nie aufhören, dich zu suchen. Sie wollen dich unbedingt zurückhaben. Und – hast du jetzt alles, womit du gekommen bist?«
    Noah schaute sich noch einmal im Laden um und nickte. Eigentlich wollte er nicht gehen, aber er wusste, dass er nicht allein dableiben konnte. Der Spielzeugladen war seltsam und sehr verwirrend, aber trotzdem fühlte er sich hier geborgen.
    »Gut«, sagte der alte Mann. »Dann gehen wir mal.«
    Sie traten hinaus in die kühle Abendluft. Auf der Straße war alles ruhig, nirgends eine Spur von dem hilfreichen Dackel oder von dem hungrigen Esel oder von den Dorfbewohnern, die sich am Nachmittag vor dem Laden versammelt hatten.
    »Schließen Sie nicht die Tür ab?«, fragte Noah. »Falls ein Einbrecher kommt?«
    »Die einfachste Art, einen Einbruch zu verhindern, ist, die Tür nicht abzuschließen«, erklärte der alte Mann und wandte sich nach rechts. »Das ist völlig logisch, aber keiner denkt daran. So, und jetzt komm, wir gehen in diese Richtung.«
    Sie gingen an Poppas Baum vorbei, und Noah schaute ihn sich noch einmal genau an. Eigentlich sah er aus wie ein ganz normaler Baum, obwohl man nicht leugnen konnte, dass von ihm ein helleres Leuchten ausging als von den Bäumen in dem Wald bei ihm zu Hause.
    »Ich würde gern mal versuchen, aus dem Holz von diesem Baum etwas zu schnitzen«, sagte Noah.
    »Ach, das geht leider nicht, fürchte ich«, sagte der alte Mann kopfschüttelnd. »Dieser Baum gehört ausschließlich dem Spielwarenladen. Und man kann nicht einfach Spielzeug oder Marionetten schnitzen. Das muss man viele Jahre üben, bis man sein Handwerk meisterhaft beherrscht«, fuhr er fort. »Man muss hart arbeiten. Und außerdem braucht man Zugang zu viel gutem Holz.«
    »Das trifft sich gut!« Noah strahlte. »Mein Vater ist doch Holzfäller, und unser Haus steht am Waldrand, das heißt, ich habe mehr als genug Holz. Wenn ich es wirklich versuchen möchte, heißt das.«
    »Man braucht außerdem auch noch gutes Handwerkszeug«, fügte der alte Mann hinzu. »Ein solides Schnitzeisen, einen starken Hobel, mehrere scharfe Messer. Und natürlich Farbe. Erstklassige Farbe.«
    »Onkel Teddy!«, rief Noah.
    »Onkel – wie bitte?«
    »Onkel Teddy! Er hat ein Farbengeschäft. Mit mehr als dreitausend verschiedenen Farben.
Wenn wir’s nicht haben, existiert es nicht, Kumpel
 – das ist sein Motto.«
    »Außerdem«, sagte der alte Mann nach einer kurzen Pause, »– außerdem muss man sehr gut rechnen können, wenn man ein Geschäft hat. Sonst kann man keine Buchführung machen.«
    »Ich kann nicht besonders gut rechnen«, gab Noah zu. »Aber so langsam werde ich besser. In der Schule, meine ich. Mein Lehrer hat gesagt, allmählich komme ich auf den richtigen Trichter. Jedenfalls bei Bruchrechnungen und Dezimalzahlen. Aber das mit der Trigonometrie, das habe ich leider immer noch nicht kapiert.«
    »Ach, Trigonometrie ist für einen Jungen ungefähr so nützlich wie ein Fahrrad für einen Fisch«, sagte der alte Mann. »Da würde ich mir an deiner Stelle nicht allzu große Sorgen machen. Aber es ist auch wichtig, dass man gut schreiben kann«, fügte er hinzu. »Damit man Briefe an seine Lieferanten schreiben kann.«
    In Noahs Kopf sprudelten die Ideen nur so. Den Blick auf den Boden gerichtet trommelte er mit den Fäusten auf seine Oberschenkel, während er seine Optionen durchging.
    »Ich frage mich …«, begann er. »Ich frage mich, ob ich vielleicht doch zurückgehen soll … na ja, jedenfalls für eine Weile. Also, bis ich ein, zwei Jahre älter bin, länger nicht. Bis ich
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