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Der Junge mit dem Herz aus Holz

Der Junge mit dem Herz aus Holz

Titel: Der Junge mit dem Herz aus Holz
Autoren: John Boyne
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den Mund und schluckte sie ganz hinunter. »Tatsache ist, dass du fast zehn Jahre weg warst.«
    »Nein!«, rief ich und schaute auf meine Uhr, als könnte ich da sehen, ob diese Aussage richtig war oder nicht.
    »Ich versichere dir, dass es stimmt.«
    »Dann habe ich also zehn Geburtstage verpasst?«, fragte ich.
    »Du hast zehn Geburtstage deines Vaters verpasst«, sagte Dr. Wings streng. »Und die ganze Zeit hat er immer nur von dir gesprochen. Jede Woche hat er in der Zeitung die Berichte über deine Heldentaten gelesen.«
    »Ich wollte doch gar nicht so lange wegbleiben«, sagte ich. »Schließlich habe ich Poppa versprochen, nach den Olympischen Spielen wieder nach Hause zu kommen.«
    »Aber du bist nicht nach Hause gekommen«, sagte Dr. Wings.
    »Stimmt«, gab ich zu. »Ich bin nicht nach Hause gekommen. Aber wieso ist er krank geworden?«
    Dr. Wings lächelte milde. »Mein Junge, er ist alt geworden, sonst nichts. Dein Vater war ein sehr betagter Mann. Er hat sein ganzes Leben über hart gearbeitet. Ja, er hat noch jeden Tag im Spielzeugladen gestanden, bis vor ein paar Wochen. Dann bekam er immer wieder Schwindelanfälle. Ich habe ihn untersucht, aber ich konnte nichts mehr für ihn tun. Ein paar Tage später ist er gestürzt, und danach hat er sich ins Bett gelegt. Von da an ging es leider immer weiter bergab.«
    Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. »Ich habe nie daran gedacht, dass das passieren könnte«, sagte ich.
    »Aber wir werden alle alt«, sagte das Kaninchen. »Auch du wirst älter. So ist das eben. Aus Jungen werden Männer. Und aus Männern werden alte Männer. Das hast du doch gewusst.«
    Ich nickte. Aber ich wusste auch, dass es etwas gab, was nicht alt wurde: eine Marionette.
    »Wenn du doch nur eine Stunde früher gekommen wärst«, sagte Dr. Wings noch einmal tief betrübt.
    »Nur eine Stunde? Wollen Sie damit sagen, dass –?«
    »Ja. Er ist gestorben, kurz bevor du heimgekommen bist. Er liegt nebenan, in seinem Bett. Du kannst hineingehen und ihn sehen, wenn du möchtest.«
    Ich seufzte und ging langsam zur Schlafzimmertür. Einen Moment zögerte ich, bevor ich eintrat, weil ich Angst hatte, was ich sehen würde, wenn sich meine Augen an die dämmrige Beleuchtung gewöhnt hatten. Die Vorhänge waren geschlossen, und der Raum lag in abendlichem Halbdunkel. Auf dem Nachttisch meines Vaters döste leise eine kleine Lampe, doch als sie meine Anwesenheit spürte, blickte sie auf, und ihre Birne wurde sofort ganz hell, weil sie so überrascht war.
    Im Bett lag Poppa und sah aus, als würde er tief und fest schlafen. Er war älter als in meiner Erinnerung, aber er wirkte sehr friedlich. Darüber war ich froh.
    »Ich bin’s, Poppa«, flüsterte ich und trat näher. »Ich bin nach Hause gekommen.«
     
    Nachdem wir Poppa zur letzten Ruhe gebettet hatten, wurde mir ziemlich schnell klar, dass ich etwas tun wollte, um sein Andenken zu ehren. Ich hängte meine Laufschuhe an den Nagel und beschloss, nicht mehr zu laufen, sondern das Geschäft weiterzuführen. Schließlich hatte Poppa so viele Jahre darauf verwendet, den Spielzeugladen aufzubauen, dass es eine Schande gewesen wäre, ihn einfach zu schließen, weil sein Schöpfer nicht mehr unter den Lebenden weilte. Ich schloss Frieden mit dem ganzen Laden und mit allen, die von meiner langen Abwesenheit enttäuscht waren, und wir nahmen uns vor, noch einmal von vorn anzufangen und wieder Freundschaft zu schließen.
    Zum Glück hatte ich, nachdem wir in das Dorf hier gezogen waren, in der Schule so viel gelernt, dass ich genau wusste, was zu tun war.
    Ich stand jeden Morgen um vier Uhr auf und lief fünf Stunden lang, um in Form zu bleiben. Dann öffnete ich den Laden. Wenn keine Kunden da waren, was immer der Fall war, schnitzte ich neues Spielzeug. Alle möglichen Sachen: Züge und Autos, Fußbälle und Boote, Buchstaben-Puzzles und Alphabet-Klötze, aber nie eine Marionette, keine einzige Marionette – und ich malte die Sachen an, zeichnete sie mit einem Preis aus und stellte sie in die entsprechenden Regale. Sobald Alexander am Abend sechs Uhr schlug, zog ich schnell meine Sportkleidung an und lief in die etwas weiter entfernten Dörfer. Wenn ich ein paar Stunden später zurückkam, schloss ich den Laden ab und ging nach oben, um etwas zu essen. Eine Portion Nudeln vielleicht. Oder einen Salat. Jeden Abend ging ich um Mitternacht ins Bett und stand um vier wieder auf, sieben Tage in der Woche.
    Alles in allem war es ein gutes Leben, sagte
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