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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Autoren: Ian Brown
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mir. »Aber wenn sie entbunden und auf der Welt sind, ignorieren wir sie.« Wir saßen in ihrem Behandlungszimmer, und sie weinte. Als ich sie fragte, warum, sagte sie: »Weil ich es die ganze Zeit erlebe.«
    Manchmal, wenn ich Walker beobachte, ist es so, als würde ich den Mond anschauen: Man sieht den Mann im Mond, obwohl man doch genau weiß, dass es ihn nicht gibt. Aber warum ist Walker, wenn er nicht im eigentlichen Sinn präsent ist, so wichtig für mich? Was will er mir zeigen? Ich will einfach nur wissen, was in seinem verformten Kopf vor sich geht, in seinem zerberstenden Herzen. Aber jedes Mal, wenn ich frage, überredet er mich irgendwie dazu, in mein eigenes Herz zu schauen.
    Aber da gibt es noch ein weiteres Problem. Bevor ich mit Walker nach unten zu seinem Fläschchen schlüpfen kann, wallt um mich herum der Duft seiner Windel auf. Walker kann nicht auf die Toilette gehen. Ohne eine frische Windel wird er auch nicht wieder einschlafen und nicht aufhören, sich gegen seinen eigenen Kopf und seine Ohren zu hämmern. Und so wenden wir uns vom Routine-Nahrungsschlauch ab und der Routine-Windel zu.
    Ich drehe mich um 180 Grad zum ramponierten Wickeltisch und frage mich, wie ich es jedes Mal tue, wie das wohl gehen soll, wenn er zwanzig sein wird und ich sechzig. Der Trick ist, seine Arme so festzunageln, dass er sich nicht selbst schlägt. Aber wie soll man einem dreiundzwanzig Kilo schweren Jungen die volle Windel wechseln und gleichzeitig seine beiden Hände festklemmen, damit er sich nicht gegen den Kopf haut oder (schlimmer noch) hinunter langt, um sich seinen winzigen, an eine Pflaume erinnernden, nun plötzlich freiliegenden Hintern zu kratzen und dabei alles mit Exkrementen vollzuschmieren? Und außerdem noch beide Füße ruhig halten, weil sonst dito? Man darf nicht mal für eine Sekunde seine Aufmerksamkeit schweifen lassen. Noch dazu geschieht all dies im Dunkeln.
    Aber ich habe dafür meine Routine entwickelt. Ich halte seine linke Hand mit meiner Linken und klemme mir seine rechte Hand, damit sie nichts anrichten kann, unter meine linke Achsel. Ich habe das so oft getan, dass es für mich so selbstverständlich wie gehen geworden ist. Ich halte seine Fersen außerhalb der Gefahrenzone, indem ich meinen rechten Ellbogen dazu benutze, seine Knie am Beugen zu hindern, und mache die ganze schmutzige Arbeit mit meiner Rechten. Meine Frau Johanna kriegt das allein nicht mehr hin und ruft mich manchmal zu Hilfe. Wenn sie das tut, bin ich nie besonders nett zu ihr.
    Und das Wechseln selber: eine Aufgabe, der man sich mit all dem Fingerspitzengefühl eines Munitionsexperten aus einem James Bond-Film, der gerade eine Atombombe entschärft, nähern muss. Das Auseinanderfalten und Anlegen einer neuen Windel, das vertraute Gefühl der kratzigen Klettbänder auf der weichen Windel, der Unglaube, dass das je halten wird, die gewaltige, aufwallende Erleichterung, dass man sie schließlich doch zugeklebt kriegt – wir haben es geschafft! Die Welt ist wieder sicher! Dann werden seine Beine wieder in den Schlafanzug gestopft.
    Jetzt sind wir so weit, nach unten zu gehen, um sein Fläschchen zu machen.
    Drei Treppen, auf Händen und Füßen, dabei aus den Fenstern an den Treppenabsätzen schauen, während wir runtermarschieren. Er windet sich, und so beschreibe ich ihm mit leiser Stimme die Nacht. Heute Nacht scheint der Mond nicht, und für November ist es ziemlich feucht.
    In der Küche widme ich mich dem Fläschchen-Ritual. Die gewichtslose Plastikflasche (das dritte Fabrikat, das wir ausprobiert hatten, bis wir eins fanden, das passte und groß genug für seine nicht allzu feine Motorik war, aber leicht genug, damit er es festhalten konnte), die Sparpackungs-Box mit Milchnahrung (deren Ausmaß frustrierend ist, weil es so viel impliziert), das komplizierte Titrieren von winzigen Mengen Spezialbabybrei mit Haferflocken (er aspiriert Dünnflüssiges; wir brauchten Monate, um die für ihn passenden Mengenverhältnisse herauszufinden, die die genau für ihn passende Konsistenz besitzen. Mein Kopf schwirrt mir von all diesen Mengen und Zahlen: Dosierungen, Aufwärmzeiten, der Rhythmus seiner Darmtätigkeit/seines Kratzens/seiner Schreie/seiner Nickerchen). Der nächtliche Stich über den feinen Film von Breipulver, der sich über alles legt: Werden wir jemals wieder so etwas wie ein normales Leben führen können? Der zweite Stich, aus Scham darüber, dass man überhaupt solche Gedanken hegt. Das Wühlen im wie
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